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Weltverbesserin

Eva fragte sich, was ein schönes und moralisches Leben ausmacht. In den wirtschaftlich schwierigen Jahren der Weimarer Republik blieb die finanzielle Lage ihrer Familie angespannt. Dennoch blickte Eva optimistisch in die Zukunft. Sie sah es als eine Aufgabe an, sich für eine bessere Welt einzusetzen.

  • Wie wollte Eva die Gesellschaft verbessern?
  • Worüber bildete sie sich ein Urteil?

Eva dachte über eine Gesellschaft nach, die gerecht und doch ausgesprochen jüdisch sein sollte. Ihr Blick richtete sich dabei in die USA, die Sowjetunion und nach Palästina.

 

Evas Bruder Siegfried und Freunde der Schiffmanns waren in die USA ausgewandert, so dass Eva auch persönliche Kontakte in die USA hatte: „Zu meinem Geburtstag habe ich von Frau Domowitz aus Amerika einen Dollar u. ein Bild von ſich mit ihrem Sohn bekommen. Domowitzs ſind ſehr nette Leute, die erſt in Gotha wohnten. Sie ſchicken jedem von uns, wir ſind 6 Kinder, zum Geburtstag einen Dollar. Manche gehen verloren, meiner kam an.“ (Elbing, 3.8.25)

Mit 21 Jahren war Siegfried Schiffmann 1926 von Hamburg nach New York gereist, wo er zunächst bei Verwandten wohnte. Eva notierte mehr als ein Jahr später: „Es gefällt ihm sehr gut. Er schickt uns auch schon Dollars. Er schrieb neulich, er habe schon soviel Geld gespart, um nach Deutschland zu kommen.“ (d. 22.01.28)  Jedoch schob Siegfried seinen Besuch noch einmal auf. Ein offensichtlicher Grund waren die Einwanderungsbeschränkungen, die seine Rückkehr in die USA unsicher machten: „Er kommt erst, wenn er amerik. Bürger ist.“ (20.1.29.) Zur Einbürgerung drängten offensichtlich auch seine Heiratspläne, denen Eva freudig zustimmte: „Vor einigen Jahren, als Domowitz, die jetzt in Amerika ſind, noch hier wohnten, war mal ihre Schweſter aus Polen hier zu Beſuch. Jetzt ſchreibt Siegfried, er korreſpondiert mit ihr und will ſie heiraten. Knorke! Sie iſt hübſch und nett.“ (Gotha, d. 15. Juli 1928)
 

Die weltweiten Verbindungen der Familie Schiffmann ergaben sich aus der jüdischen Diaspora und der Migration, die eine Folge des Ersten Weltkrieges und der Pogrome in Osteuropa war. Evas Vater stammte aus Galizien. Kontakte in der Familie und unter Freunden gab es nach Polen, in die USA und auch nach Westeuropa: „Mein Latein muß ich morgen abschreiben. – Sally ist die Woche nach Paris gefahren.“ (22.1.29)

Eva wurde als Jüdin ausgegrenzt, wenn in der Schule nationale und rassistische Maßstäbe angelegt wurden. Ihre Suche nach Worten beim Schreiben zeigt, wie verletzend das war: Wir sprachen in der Schule von der Verteilung der Rassen auf der Welt. Das ist so sh schrecklich, so schmerzlich, wenn man da g hören muß, daß die Juden auf jedes Land verteilt sind in so und soviel %. Wir müssen ein Land haben, damit man uns achtet." (15.2.29.)

Die Sowjetunion war für Eva offenbar weniger präsent. Eine Exilrussin, die 1922 nach Gotha geflohen war, unterrichtete als Honorarlehrerin an ihrer Schule. Sie wurde im Tagebuch jedoch nicht erwähnt. Auch die sowjetischen Filme, die in Gotha gezeigt wurden, zählten offensichtlich nicht zu Evas Kinoerlebnissen.

Über den Besuch der bekanntesten sowjetischen Agitprop-Theatertruppe im Gothaer Schießhaus notierte Eva dagegen am 23. Oktober 1927: „Neulich war ich [beim] Jantef-Abend in den „Blauen Blusen“ mit Ilse. Erst durfte ich nicht, aber dann bekamen wir doch die Erlaubnis. Es sind russische Arbeiter. Es war sehr schön, sie sangen und tanzten.“

Die Tournee der ersten Blaue-Blusen-Truppe war im Herbst 1927 am Theater von Erwin Piscator in Berlin gestartet. Sie löste einen Boom von proletarischen Laientheatergruppen aus, die kommunistische Ideen propagierten und mit den Formen des bürgerlichen Theaters brachen. Der Name „Blaue Bluse“ stammte von den Arbeiteruniformen, in denen die Schauspielerinnen und Schauspieler auftraten.

Die amerikanische war wie die sowjetische Massenkultur eine neue Erfahrung der 1920er Jahre. Viele Deutsche meinten, in einer Kulturnation zu leben. Sie sorgten sich wegen des zunehmenden Einflusses von Hollywood-Filmen, Jazz-Musik und Charleston-Tanz. Das proletarische Theater, das sich am sowjetischen Vorbild orientierte, hatte dagegen eher den Status einer Subkultur. Es war mit staatlicher Zensur und Spielverboten konfrontiert.

Eva war von Hollywood-Filmen ebenso begeistert wie von UFA-Filmen. Den Charleston, den die amerikanische Tänzerin Josephine Baker in Europa bekannt machte, fand sie zwar unästhetisch, lernte aber dennoch erste Schritte. Unterhaltungsromane lehnte Eva dagegen ab. Nach bürgerlichen Konventionen  verstand sie sich Leserin anspruchsvoller Literatur. Die Anziehungskraft von Büchern für den Durchschnittsgeschmack hat sie bei ihrer Mitschülerin Änne und ihrer Mutter dabei durchaus registriert.

„Aschenbrödel und Dollarprinz“ war einer der vielen Bestsellerromane, die die Erfolgsschriftstellerin Hedwig Courths-Mahler in den 1920er Jahren veröffentlichte. Die Verwechslungsgeschichte enthielt viele zeitgenössische Stereotypen von Amerikanern und Deutschen. Der Dollarprinz entpuppt sich als ein erfolgreicher amerikanischer Geschäftsmann, der eine Schuld seines verstorbenen Vaters in Deutschland abträgt. Das deutsche Aschenbrödel ist die Tochter, die in der Familie zurückgesetzt ist. Sie liebt den unerkannten „Dollarprinzen“ mit Hingabe und ohne Kalkül. Dagegen denken ihre beiden Stiefschwestern und die Stiefmutter materialistisch. Sie wollen einen reichen Mann und Schwiegersohn, setzen dabei aber auf den falschen "Dollarprinz", weil sich der Geschäftsmann als Sekretär ausgibt.

 

 

Eine sowjetische Lesart der Aschenbrödel-Geschichte fand Eva in „Die Tagebücher des Kostja Rjabzew“. In dem Tagebuchroman wird das Märchen im Schultheater aufgeführt und enthusiastisch zu einer Geschichte über die Revolution umgedeutet: Auf die Bühne tritt ein Agitator, der prototypisch für einen militanten und ideologisch verbohrten Kommunisten steht. Er bringt Aschenbrödel dazu, auf den Ball zu gehen. Zum Ende jedoch verprügelt er den Prinzen und zettelt einen Aufstand an.

Auszug aus dem Tagebuchroman von Nikolai Ognjew, S. 11:

"1. Januar 1924.  Es gab 'Das rote Aschenbrödel'. Da kommen zwei Schwestern vor, die sind Bourschujkas*; eine dritte ist Wäscherin. Wer das ausgedacht hat, weiß ich nicht, aber ich bin der Ansicht, daß es sowas nicht gibt, denn alle drei leben zusammen. Die Sache fängt so an, daß die Bourschujkas* zu einem Ball fahren und das rote Aschenbrödel zu Haus das Geschirr abwäscht. Dann erscheint plötzlich irgendein Geck in rotem Hemd und gibt dem Aschenbrödel eine Proklamation zu lesen. Das Aschenbrödel liest, zieht das Kleid ihrer Schwester an und rennt los. Im zweiten Akt ist der Ball; da tanzen Aschenbrödels Schwestern und noch andere in bunten Kleidern. Plötzlich kommt Aschenbrödel angerannt und tanzt auch. Ein Prinz geht ihr nach, aber sie hat Angst vor ihm, läuft weg, verliert den Schuh … Dann im dritten Akt kommt der Prinz zu ihnen nach Haus und probiert, wem der Schuh paßt. Er paßt keiner, nur dem Aschenbrödel paßt er. Der Prinz will sie heiraten, aber plötzlich kommt der Agitator von früher, verkündet, daß ein Aufstand begonnen hat und verdrischt den Prinzen. Der läuft weg mitten durch das Publikum, und in diesem Augenblick kommen alle, die verkleidet auf dem Ball waren, und singen zusammen mit den Schwestern die 'Internationale'. Hier gibt es viel Unwahrscheinliches. (…) Ich bin der Ansicht, daß es, was das Zuschauen anbelangt, im Kino interessanter ist; da braucht man gar nicht zu denken; aber was das Selberspielen anbelangt, ist es im Theater interessanter; auf der Leinwand ist doch bloß Schatten.

* Volkstümlicher Ausdruck für Bourgeois"

 

 

 

Was aus Amerika, der Sowjetunion und Palästina in Deutschland gelesen, gezeigt und diskutiert wurde, beeinflusste Evas Sicht auf gesellschaftliche Probleme und auf die Machbarkeit von Lösungen: „Die Unterschiede, oder vielmehr Arm und Reich wird es immer geben, das läßt sich nicht ändern.“ (8.1.28.27.)

Politisch wach und interessiert griff sie viele neue Begriffe auf, mit denen sie sich auch eine bessere Zukunft ausmalen konnte. Eva hatte sich noch keinen persönlichen Eindruck von anderen Ländern machen können. Eher pragmatisch fragte sie sich, was von Weltanschauungen und Ideologien zu ihrem Leben passen würde: „Ich sage immer, ich bin Zionist. Ich bin mir aber noch gar nicht klar darüber ob ich nicht lieber Kommunist sein müßte. Gleichheit für alle Menschen ist doch ein höheres Ziel als nur das Los der Juden zu bessern. Gestern abend ist mir da eine Lösung gekommen. Ich will für alle Menschen arbeiten. Ich kann doch aber nicht für alle zu gleicher Zeit etwas tun. Da fang ich mit denen an, die mir am nächsten stehen und das sind die Juden. Das ist mir nun klar.“ (Leipzig, d. 11.10.28.)

Schließlich zeigte sich Eva skeptisch gegenüber allen Zukunftsversprechen, deren Einlösung sie zu Lebzeiten für unsicher hielt: „Und wirklich: Viele Jahre p später: (Ich bin längst tot) gibt es ein jüd. Land. Die Juden sind alle gleichgestellt. Sie sind alle glückl. u. zufrieden. Was haben sie vom Leben? Was habe ich gehabt?“ (Leipzig, d. 11.10.28.)

Was ihr christlicher Geschichtslehrer als logisch und gerecht ansah, erschien Eva nicht nur zu simpel. Sie hielt ihn auch für ignorant, weil er dabei ignorierte, dass das Judentum eine Religion des Diesseits und nicht des Jenseits ist: „Herr Liffert hat neulich in Geschichte einiges von Kant gesagt. Dabei ist er in ‚logischer‘ Entwicklung auf ein Leben im Jenseits gekommen. Kurz: Ein armer, guter Mensch, ein reich, schlechter. Der 1. ein Leben voll Trübsal, der 2. herrlich u. in Freuden. Beide sterben genauso. Da es eine Gerechtigkeit gibt, muß der 1. seinen Lohn, der 2. seine Strafe bekommen." Eva fragte zurecht: „Ja, wieso ist das logisch? Wer hat denn den Begriff: Gerechtigkeit aufgestellt?" (17.1.29.)

Zu meinem Geburtstag habe ich von Frau Domowitz aus Amerika einen Dollar u. ein Bild von ſich mit ihrem Sohn bekommen. Domowitzs ſind ſehr nette Leute, die erſt in Gotha wohnten. Sie ſchicken jedem von uns, wir ſind 6 Kinder, zum Geburtstag einen Dollar. Manche gehen verloren, meiner kam an. (Elbing, 3.8.25)

Bernhard iſt in Satu-Mare in Rumänien in einer Jeschiwah. (Elbing, 3.8.25)

Neulich war ich [beim] Jontef-Abend in den „Blauen Blusen“ mit Ilse. Erst durfte ich nicht, aber dann bekamen wir doch die Erlaubnis. Es sind russische Arbeiter. Es war sehr schön, sie sangen und tanzten. (Gotha, d. 23.10.27.)

Erna ist ja jetzt da, sie fährt aber wieder Donnerstag nach Frankfurt. Dort will sie Geigen- und Singstunden nehmen. Sophie ist auch dort. Sie will aber ab 1. Nov. in die Opernschule gehen. Dora ist jetzt in Darmstadt bei Rabbi Dr. Mer[z]bach. Ilse will auch weg. (Gotha, d. 23.10.27.)

Dora ist wieder zu Hause. Sie ist in Darmstadt krank geworden und lag dort im Krankenhaus. Papa ist gleich hingefahren und hat sich dann acht Tage später geholt. Sie ist sehr nervös. (4. Dez. 27)

Ich lese jetzt im Volksblatt „Petroleum“ von Upton Sinclaire. Trotzdem ich den Arbeitern rechtgebe und einsehe, daß die Welt doch wirklich viel Unrecht in sich hat, (denn warum ist der eine reich, der andere arm, warum dünkt sich der eine besser, weil er mehr Geld hat. Diese „Bessern“ sind ja auch meist gebildeter, aber das ist eben eine Folge ihres Reichtums. denn die Armen haben kein Geld zur Ausbildung.) möchte ich doch gerne reich sein. Manchmal denke ich mir, ich wollte einen reichen Mann heiraten, viele Dienstboten halten, nichts tun, Kinder nur adoptieren usw. Aber es [ist] doch auch wieder nicht recht, daß ich so reich sein will und andere mir Dienstboten sein sollen. Ich denke mir zwar, daß ich alle sehr gut behandeln würde und gute bezahlen. Die Unterschiede, oder vielmehr Arm und Reich wird es immer geben, das läßt sich nicht ändern. (8.1.28.27.)

Gestern habe ich etwas gelesen. Ein Junge (Kommunist) schreibt aus der Schule, er habe so einen gemeinen Lehrer usw. Bei uns sind ja nicht solche Zustände, aber es könnte auch manches besser sein. Es gibt ja jetzt schon Reformschulen, aber erstens sind sie schon noch nicht verbreitet, zweitens gefallen sie mir auch nicht so gut. Es sind da hauptsächlich die Kinder freier und die Lehrer netter. Bei uns sind auch zwei sehr nette Lehrer, mit denen man sich wie mit Kameraden unterhalten kann. Herr Liffert und Herr Stoll. (8.1.28.27.)

Die modernen Gehtänze kann ich auch so ungefähr. Charleston, auch ein bisschen. Der letztere wird eigentlich nicht viel getanzt, er ist so unästhetisch. Wir tanzen öfters vor der Singstunde. Da gehen wir in den Musiksaal. Nebenan ist ein kleines Klavierzimmer, dort tanzen wir. (d. 22.1.28)

Ich habe noch gar nicht geschrieben, daß Siegfried no schon über ein Jahr ein Amerika ist. Es gefällt ihm sehr gut. Er schickt uns auch schon Dollars. Er schrieb neulich, er habe schon soviel Geld gespart, um nach Deutschland zu kommen. Bernhard ist auch schon längst wieder da aus Rumänien, sodaß wir jetzt fünf Kinder zu Hause sind. (d. 22.1.28)

Neulich sprachen wir in der Klasse davon, einen engl. Lektüreabend zu machen. (d. 22.2.28.)

Lischen geht mit einem Oberprimaner der Ostern nach Jena geht. (d. 26.2.28.)

Ich lese jetzt „Petroleum“ von Upton Sinclaire. Der Vater ist Millionär (Petroleummagnat). Der Sohn und Erbe ist Kommunist. Er begreift es nicht, warum sein Vater grade reich ist und so viele Leute arm. Im Kino war ich neulich in „Metropolis“ mit Brigitte Helm und Gustav Froelich. Der Vater war auch ein Millionär und der Sohn sympathisierte mit den Arbeitern. Mir sind „solche Söhne“ natürlich sehr sympathisch. (d. 26.2.28.)

Vor einigen Jahren, als Domowitz, die jetzt in Amerika ſind, noch hier wohnten, war mal ihre Schweſter aus Polen hier zu Beſuch. Jetzt ſchreibt Siegfried, er korreſpondiert mit ihr und will ſie heiraten. Knorke! Sie iſt hübſch und nett. (Gotha, d. 15. Juli 1928.)

Wir hatten ſehr feine Sichoth. Z. B. Warum bin ich Zioniſt? Es ſtellte ſich heraus, daß 3 Kommuniſten da waren 15 Jahre 1 Mädel und 2 Jungen, das war nun ſehr intereſſsant. Ich finde, es iſt die Pflicht jedes Juden, Zioniſt zu ſein. d.h. zu helfen, ein eigenes Land zu haben. Natürlich meine ich das nicht wegen Religion ſondern weil wir Überreſte eines alten Volkes ſind, das wir erhalten müſſen. Neulich ſprach ein Lehrer in der Aula. Er ſagte auch etwas von zerſtreut ſein in der ganzen Welt wie Zigeuner und Juden. Ich hätte ihm ſo gern geſagt: Bald ſind wir es nicht mehr. Wir ſchaffen uns ein Land. ich finde immer, daß die Leute, die ſagen: ſie ſind Deutſche jüdiſchen Glaubens, noch nie richtig überlegt haben. Ein klar denkender Menſch muß doch einſehen, daß wir ein Volk ſind. Es müſſen ja dann nicht alle im Lande wohnen. Es gibt ja auch Deutſche im Ausland. Nach dem 70j. babyl. Exil blieben auch viele in Babylonien. Unſer Exil iſt das gleiche, bloß ſo unendlich lange. Die Kommun. ſagten, es ſei egoiſtiſch, bloß an die Juden zu denken, man müßte die ganze, internationale Menſchheit bedenken. Ich finde die komm. Ideen auch ſehr richtig. Aber erſtens hat ein Jude eben ſeine Pflichten, zweitens iſt unſere Aufgabe viel konkreter. Ich bin mir ſelbſt noch nicht im Klaren über all das. Ich muß darüber noch ſehr viel leſen, habe aber wenig Zeit. (Gotha, d. 30.8.28.)

Es verträgt ſich nicht mit meiner Ideologie. (5.9.28)

Ich sage immer, ich bin Zionist. Ich bin mir aber noch gar nicht klar darüber ob ich nicht lieber Kommunist sein müßte. Gleichheit für alle Menschen ist doch ein höheres Ziel als nur das Los der Juden zu bessern. Gestern abend ist mir da eine Lösung gekommen. ich will für alle Menschen arbeiten. Ich kann doch aber nicht für alle zu gleicher Zeit etwas tun. Da fang ich mit denen an, die mir am nächsten stehen und das sind die Jungen. Das ist mir nun klar. Wenn ich nun aber weiterdenke: Wir JJWBler wollen doch eigentl. auf Hachscherah gehen. Ich habe nun keine Lust dazu, möchte lieber studieren; gehe meines Zieles wegen aber doch. Ich arbeite nun, andere arb. auch. Und wirklich: Viele Jahre p später: (Ich bin längst tot) gibt es ein jüd. Land. Die Juden sind alle gleichgestellt. Sie sind alle glückl. u. zufrieden. Was haben sie vom Leben? Was habe ich gehabt? Jeder wird geboren, lebt und stirbt. Wie blödsinnig ist doch das ganze Leben. Es ist also ungefähr so: Man lebt, um seine Bedürfnisse (in weitem Sinne) zu befriedigen. Ich versteh sehr gut, wie ein Philosoph verrückt werden kann. Ich glaube, das ist noch das Beste. Nichtsdestotrotz bin ich genau so blödsinnig wie jeder andere und habe meine kleinlichen Sorgen oder nicht Sorgen, die unser Leben ausfüllen. (Leipzig, d. 11.10.28.)

Eben denke ich dran: Siegfried wird sich wahrscheinlich bald verloben mit einer Schwester von Fr. Domowitz. Ich g habe es, glaube ich, schon geschrieben. (Gotha, d. 4.11.28.)

Als Dora in Frankfurt war, kannte sie einen JJWBler, den sie gut leiden konnte. Er war immer sehr nett zu ihr, und sie zu ihm. Einmal waren einige bei ihm in der Wohnung. Als sie gingen, bat er Dora, zu bleiben. Dann nahm er sie in die Arme und küßte sie. Sie war entsetzt u. sprach nicht mehr mit ihm. Daran kann man sehen, was das benehmen ausmacht. Wenn er anders getan hätte, hätte sie sich sicher mit ihm angefreundet. (17.1.29.)

Herr Liffert hat neulich in Geschichte einiges von Kant gesagt. Dabei ist er in „logischer“ Entwicklung auf ein Leben im Jenseits gekommen. Kurz: Ein armer, guter Mensch, ein reich, schlechter. Der 1. ein Leben voll Trübsal, der 2. herrlich u. in Freuden. Beide sterben genauso. Da es eine Gerechtigkeit gibt, muß der 1. seinen Lohn, der 2. seine Strafe bekommen. Ja, wieso ist das logisch? Wer hat denn den Begriff: Gerechtigkeit aufgestellt? (17.1.29.)

Heute hat uns Leo H. Grüße von Siegfried überbracht. Er kommt erst, wenn er amerik. Bürger ist. (20.1.29.)

Mein Latein muß ich morgen abschreiben. – Sally ist die Woche nach Paris gefahren. (22.1.29)

Ich bin wieder Zionist. Wir sprachen in der Schule von der Verteilung der Rassen auf der Welt. Das ist so sh schrecklich, so schmerzlich, wenn man da g hören muß, daß die Juden auf jedes Land verteilt sind in so und soviel %. Wir müssen ein Land haben, damit man uns achtet. Aber ich bin kein JJWBler. Ich will nicht als Landarbeiterin selbst mit bauen. Ich habe keine Lust dazu, und bin nicht so edel, um es nur für die Idee zu tun. Ich will aber viel Geld verdienen, und viel für den Aufbau Palästinas geben. Aber ich bin je ein richtiger Kapitalist? (15.2.29.)

Im Frühjahr geht „Hamischmar“, ein Berliner Zug in den Kibuz. (Dazu gehört auch Jo). Erna geht auch im Herbst rüber, auch Leo Maierh Meierhof. (Gotha, d. 8. September 1929)

Die Schule kotzt mich an. ich weiß nicht, warum ich nicht abgehe und einen Beruf ergreife für Palästina! Ich kann den Mut dazu nicht aufbringen! Ich möchte auch das Gefühl nicht haben, daß mir irgendein Weg verschlossen ist; ich möchte die Möglichkeit zu allem. Die Wahl wird zwar schwer, aber von Leuten, die Palästina allein als letzte Rettung betrachten, kann das Land nicht aufgebaut werden. (13.Sept.29)

Ilse ist ausgerissen, auf Hachscharah. Sie durfte nicht, da ist sie gegangen. Aber Pa u. Ma wollen sich Peßach mit ihr versöhnen. (11.3.30 nachts)

Eva Schiffmann

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