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Schule und Bildungsreform

1919 wurde in der Weimarer Verfassung erstmals eine Schulpflicht festgelegt. Demnach sollten alle Kinder und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr zur Schule gehen. Wer nach der Volksschule nicht auf eine höhere Schulart wie etwa das Gymnasium wechselte, für den galt die Berufsschulpflicht.

1920 wurde außerdem eine vierjährige Grundschule durchgesetzt. Unabhängig von ihrer sozialen Herkunft lernten alle Kinder in den ersten Schuljahren gemeinsam. Die so genannte Einheitsschule sollte die Bildungschancen vieler Kinder verbessern.

Eva Schiffmann besuchte in Gotha zunächst die Volksschule und danach die Aufbauschule, wo sie 1930 ihr Abitur ablegte.

  • Welche Vorteile bot die Reform des Schulsystems für Eva? 

Zu berücksichtigen ist, dass viele Schulangelegenheiten weiter durch die Länder geregelt wurden. Bildungspolitik blieb Ländersache, weil die Weimarer Republik die föderale Ordnung des Deutschen Reiches beibehielt. Das deutsche Schul- und Bildungssystem gründet bis heute auf den Bildungsreformen der Weimarer Republik.

Aufbauschulen existierten vor allem in ländlichen Regionen und Kleinstädten, in denen es bis dahin nur Volksschulen gegeben hatte. Nach sieben Jahren an der Volksschule war nun der Wechsel an eine weiterführende Aufbauschule möglich. Sie führte innerhalb von sechs Jahren zum Abitur.

Wie bei der Grundschulreform profitierten von der Aufbauschule Kinder aus kleinbürgerlichen Familien und Kinder aus Arbeiterhaushalten. Ihre Eltern hatten den Schulbesuch eines Gymnasiums in der nächsten Stadt und das Internat bis dahin nicht finanzieren können.

Im Unterschied zum Gymnasium lag der Schwerpunkt der Aufbauschule auf „deutschkundlichen Fächern“ (Deutsch, Geschichte, Geographie, Kunst) und auf den Naturwissenschaften (Chemie, Physik, Naturkunde/Biologie). Die alten Sprachen Latein und Griechisch wurden mit weniger Stunden weniger unterrichtet. Statt Französisch wurde Englisch erste Fremdsprache.

Die Aufbauschule konnte auch antimodern sein, wenn sie naturalistisch als Gegensatz zur Großstadt verstanden wurde: „Man hat erkannt, daß der Aufstieg der begabten Dorf- und Kleinstadtkinder durch unsere Schulorganisation gehemmt und niedergehalten wird. Der Aufstieg aus diesen wertvollen Volksschichten aber ist nicht in erster Linie für die Zukunft dieser Kinder notwendig; er ist für das Volksganze gerade in unserer Gegenwart von zwingender kulturpolitischer Bedeutung. In Dorf und Kleinstadt besitzt unser Volk nicht nur unverbrauchte latente Kräfte, den Jungbrunnen, aus dem es immer wieder das reine Quellwasser seiner völkischen Ursprünglichkeit schöpfen kann. Es besitzt hier Kräfte ganz anderer, ja grundsätzlich entgegengesetzter Art, als sie in der vorherrschenden Großstadtkultur und dem von ihr geformten Großstadtmenschen aller Schichten wirksam sind.“ (Die innere Gestaltung der Aufbauschule. Denkschrift 1922, S. 7)

Schule war auch in der Weimarer Republik kein Randthema. In der Bildungspolitik prallten unterschiedliche Vorstellungen über die ideale gesellschaftliche Ordnung aufeinander.

 

In Thüringen gab es neben Preußen besonders viele Aufbauschulen. Sie waren Teil der Greilschen Schulreform, die nach dem sozialdemokratischen Volksbildungsminister des Landes Max Greil (SPD, 1921−1924) benannt ist. 1922 wurde beschlossen, die Volksschullehrer:innen künftig an der Universität Jena auszubilden. Die nicht mehr benötigten Gebäude der Lehrerseminare wurden zu Aufbauschulen umgewandelt. Dazu zählte auch das Gothaer Schulgebäude in der Reinhardsbrunnerstraße.

Die Förderung von Volkshochschulen und Volksbüchereien zielte darauf, dass jede Bürgerin und jeder Bürger Zugang zu Bildung erhielt. 1923 wurde durch das Verbot der Prügelstrafe außerdem das sogenannte Züchtigungsrecht an Schulen abgeschafft.

Mit der Ablösung der Thüringer SPD/KPD-Regierung 1924 wurden viele dieser Reformen wieder rückgängig gemacht. Die Prügelstrafe war wieder erlaubt, davor geschützt waren nur noch Mädchen und Jungen der ersten Klasse. Die Schülervertretungen wurden abgeschafft und für höhere Schulen das Schulgeld wieder eingeführt. In Ausnahmefällen beibehalten wurde dagegen der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen. Das betraf vor allem Schulen, an denen es nicht genügend Mädchen für die Einrichtung einer Klasse gab. Fortgesetzt wurde auch die Lehrerbildung an der Universität.

Die Ernennung des Nationalsozialisten Wilhelm Frick zum Justiz- und Volksbildungsminister 1930 war eine Entscheidung gegen die demokratische Schule und gegen gleiche Bildungschancen. Frick erließ am 10. April ein Gesetz, das den Thüringer Schulen antisemitische Schulgebete vorschrieb.

 

253 Schüler und 43 Schülerinnen besuchten im Schuljahr 1926/27 die Gothaer Aufbauschule. Für ein Viertel der Schülerschaft wurde das Schulgeld komplett bzw. teilweise vom Land Thüringen übernommen. Eine andere staatliche Unterstützung für einkommensschwache Familien war das kostenlose Milchfrühstück.

Zur Schule gehörte ein Internat, in dem bis zu 100 Schüler wohnten, die nicht aus Gotha kamen. Es gab eine Schülerselbstverwaltung und eine Schulzeitung „Unser Heim“. Den Internats- und Schulalltag prägten Abschlussfeiern, Verfassungsfeiern und Weihnachtsfeiern, von denen einige auch im Tagebuch erwähnt sind: „In den Ferien habe ich bei Bocklers von Ännes Mutter Polka-Marzurka, Rheinländer u. Walzer gelernt. Wir haben Ostern eine Einjährigen-Feier, da werden wir wahrscheinlich tanzen.“ (8.1.28.27) Es wurden Klassenfahrten und Ausflüge in die nähere Umgebung unternommen: „[...] vorigen Sonnabend waren wir in Seebergen mit Dr. Müller, da Reifeprüfung war. Auf dem Hinweg ging ich mit Sachs und Dieter. Dort gingen wir in die Hopfenblüte.“ (d. 13.3.28.) Ein Sommerfest fand im Schulgarten statt. Zudem existierten an der Gothaer Aufbauschule verschiedene Schülervereine, Schülerwerkstätten, ein Schülerchor und das „Heimorchester“. Auch ein „Schulbrausebad“ gehörte zur Schule, da es in vielen Haushalten keine Bäder und fließendes Wasser gab, in denen die Schüler:innen duschen bzw. baden konnten.

In ihrem Tagebuch beschrieb Eva eine Begegnung mit dem Leiter des Schulheims Heinrich Steinmeyer. Eva hatte an diesem Abend das Mathematikheft des Internatsschülers Erich Schmettow (Sachs) zurückbringen wollen, war aber im Schulgebäude dabei ertappt worden: „Als ich unten ankomme, kommt Heinrich mir entgegen. Lischen und ich blieben nun stehen. Dann rief er auch Änne zurück. Er fragte uns, was wir wollten; ich sagte ihm die Wahrheit. Er nahm das Heft ab und ging hinein. Am andern Tag sagte uns Schmettow, daß Heinrich zu ihm nichts gesagt habe. Nur auf eine Bude hat er erzählt, als er gekommen sei, wäre E. Schiffmann ihm in die Arme gelaufen. Sachs wüßte ja schon was los war. In der Mathem.-Std. klopfte es. Ein Junge gab mit einem schönen Gruß von Steinm. daß Heft ab. (…)“ (d. 9.2.28.)

Die drei Mathematikaufgaben der Abiturprüfung, die Eva Schiffmann 1931 bestand, sind durch einen Bericht des Schulleiters der Aufbauschule überliefert:

"1. Sphärische Trigonometrie.

a. Wie würde ein Luftschiff, daß in der Stunde durchschnittlich 120 km zurücklegt[,] brauchen, um von Berlin (φ = 52° 30‘, λ = 13° 24‘) in ununterbrochener Fahrt auf kürzestem Wege nach Rio de Janeiro (φ =-22° 54‘; λ=-43° 10‘) zu kommen.

b. Um wieviel Grad und nach welcher Richtung hin hat sich das Flugzeug dann von seinem ursprünglichen Kurs während der Fahrt abgedreht?

c. Wo erreicht es den Äquator, und wieviel Stunden nach seiner Abfahrt fand das statt?
 

2. Analytische Geometrie

a. Gegeben ist die Hyperbel x²-4y² = 64 und die Gerade y = x-18. Bestimme die Schnittpunkte der Geraden mit der Hyperbel und die Länge der ausgewählten Sehne.

b. Welches ist der Pol der Geraden? Weise nach, daß die beiden in den Schnittpunkten der Geraden mit der Hyperbel gezogenen Tangenten durch den Pol der Geraden gehen.


3. Kurvendiskussion.

[a.] Die Kurve y = x³-3x² = 8x-4 ist zu diskutieren und zu zeichnen. (Aufstellung der Wertetabelle und Errechnung der extremen Werte).

b. Wie heißt die Gleichung der Tangente im Wendepunkt und wie groß ist für diesen Punkt die Subnormale und die Subtangente?

c. Bestimme durch die Näherungsmethode den reellen Schnittpunkt der Kurve mit der x-Achse.
 

4.    Integralrechnung

[a.] Die Parabel y² = 8x wird von der Geraden y = 2x-8 geschnitten. Berechne das Flächenstück, das die Gerade von der Parabel abschneidet.

b. Wie groß ist der Körper, der durch Rotation des über der x-Achse liegenden von der Geraden abgeschnittenen Parabelstückes um die x-Achse entsteht.

In der Hand der Prüflinge befand sich die Logarithmentafel von Kraft."

Landesarchiv Thüringen / Hauptstaatsarchiv Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium B 2938 Jahresbericht über das Schuljahr 1930/31 erstattet von dem Leiter der Anstalt Dr. Witzmann, Bl. 33r und 34r.

 

 

Auch die drei Themen der Abiturprüfung im Fach Deutsch, die Eva Schiffmann 1931 bestand, sind durch den Bericht des Schulleiters der Aufbauschule überliefert. Welches Thema Eva wählte, ist dagegen nicht bekannt. 

"Deutscher Prüfungsaufsatz: Folgende Themen wurden zur Wahl gestellt:

  1. Maria Magdalena, ein für Hebbels Kunst bezeichnendes Werk.
  2. Natürliche Grenzen und Machtgrenzen im heutigen Europa (Hilfsmittel: die politische Karte von Europa.)
  3.  'Der Eine fragt: Was kommt danach? Der Andere fragt nur: Ist es recht? Und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht.' "

Landesarchiv Thüringen / Hauptstaatsarchiv Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium B 2938 Jahresbericht über das Schuljahr 1930/31 erstattet vom Leiter der Anstalt Dr. Witzmann, Bl. 33r.

 

 

Die Aufbauschule unterschied sich von anderen Schulen durch reformpädagogische Prinzipien und Methoden. Die Schüler:innen sollten dort auch zu eigenverantwortlichem Handeln erzogen werden, was wiederum als Voraussetzung für eine stabile demokratische Ordnung galt. 

Die Abkehr vom autoritären Unterrichtsstil an der Aufbauschule deutet sich in vielen Tagebucheinträgen an: „Gestern habe ich etwas gelesen. Ein Junge (Kommunist) schreibt aus der Schule, er habe so einen gemeinen Lehrer usw. Bei uns sind ja nicht solche Zustände, aber es könnte auch manches besser sein. Es gibt ja jetzt schon Reformschulen, aber erstens sind sie schon noch nicht verbreitet, zweitens gefallen sie mir auch nicht so gut. Es sind da hauptsächlich die Kinder freier und die Lehrer netter. Bei uns sind auch zwei sehr nette Lehrer, mit denen man sich wie mit Kameraden unterhalten kann. Herr Liffert und Herr Stoll.“ (8.1.28.27.)

An der Gothaer Aufbauschule gab es eine gewählte Schülervertretung. Diese durfte zum Beispiel mitentscheiden, wer vom Schulgeld befreit wurde. Die Lehrer, die diese Form der demokratischen Mitsprache guthießen, waren ganz überwiegend republikfreundlich gesinnt. Schulleiter Witzmann beispielsweise saß von 1919 bis 1933 als Abgeordneter der nationalliberalen DVP zunächst in der Gothaer Landesversammlung, dann im Thüringer Landtag. 1933 wurde er als Schulleiter von den Nationalsozialisten in den vorzeitigen Ruhestand gezwungen.
 

Andreas Braune, Sebastian Elsbach, Ronny Noak (Hg.): Bildung und Demokratie in der Weimarer Republik (Weimarer Schriften zur Republik, 19), Stuttgart 2022.

Die innere Gestaltung der Aufbauschule. Denkschrift 1922. In: Walter Landé (Hg.): Aufbauschule. Sammlungen der Sonderbestimmungen für diese Schulart, 2. Auflage, Berlin 1929, S. 5–33.

Friedrich Hebbel: Maria Magdalena, Hamburg 1844, https://www.deutschestextarchiv.de/book/show/hebbel_magdalene_1844.

Rüdiger Loeffelmeier: Erneuerung der Schulkultur. Programm und Praxis in der Weimarer Zeit. In: Zeitschrift für Pädagogik 55 (2009), S. 345–356.

Paul Mitzenheim: Aufbauschulen in Thüringen (1922–1946). In: Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte e.V. 6. Jg. (1996), Heft 1, S. 37–48.

Paul Mitzenheim: Die Greilsche Schulreform 1921 bis 1923. Wesentliche Ergebnisse und Schlussfolgerungen. In: Manfred Weißbecker (Hg.): Rot-Rote Gespenster in Thüringen. Demokratisch-sozialistische Reformpolitik einst und heute, Jena 2004.

Judy Slivi: Gotha 1918 bis 1933. Stadt der Gegensätze, Bad Langensalza 2015, S. 135–150.

Janosch Steuwer: „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017, S. 378–383.  

Bernd Zymek: I. Schulen. In: Dieter Langewiesche, Heinz-Elmar Ternoth (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. V: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 155–190.

Reichsministerium des Innern: Die Umgestaltung des höheren Schulwesens insbesondere der deutschen Oberschule und der Aufbauschule. Denkschrift, Leipzig 1923.

Eva Schiffmann

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