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Jüdin

Gleich in ihrem ersten Tagebucheintrag am 27. Juli 1925 beschrieb sich die 13-jährige Eva Schiffmann als Jüdin. Sie begann ein Tagebuch zu führen, weil ihr eine jüdische Freundin fehlte.

  • Welche Bedeutung hatte Jüdischsein für Eva?
  • Wie lebten die Schiffmanns als Familie?

Die Sicht der Tagebuchschreiberin auf ihre Herkunft gibt den allgemeinen Beschreibungen jüdischen Lebens eine persönliche Seite. Im Alter von 16 Jahren setzte sich Eva stärker mit ihrem Verhältnis zur jüdischen Religion und allgemein mit Glaubensfragen auseinander.

Jüdische Jugendliche standen vor besonderen Herausforderungen auf der Suche nach einer eigenen Identität und ihrem Platz in der Welt. Zum einen wurden sie mit den Erwartungen ihrer Eltern, den jüdischen Traditionen und Glaubensfragen konfrontiert. Zum anderen stellte der Antisemitismus ihr deutsch-jüdisches Selbstverständnis in Frage. 

Eva wurde am 22. Juni 1912 in Gotha geboren. Sie war das sechste und jüngste Kind ihrer Eltern Albert und Frida Schiffmann. Ihr jüdischer Vater stammte aus dem polnischen Ort Dolina. Ihre Mutter kam aus einer bürgerlichen Familie in Leipzig.

1904 hatten die Eltern geheiratet. Sie waren jüdische Kleinhändler und besaßen ein Schuhgeschäft in Zella-Mehlis und eines in Gotha, außerdem ein Bekleidungsgeschäft für „Herren- und Knabenkonfektion“.

Die Einkünfte aus den Geschäften waren eher bescheiden. Sie reichten aber soweit, dass sich die Mutter vornehmlich um den Haushalt und die Kinder kümmerte. Der Wunsch der Kinder Max und Eva an der Universität zu studieren war dagegen nur schwer zu finanzieren. Auch die Schiffmanns bekamen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise 1929 auf den Konsum zu spüren. Überliefert ist, dass in einem der beiden Gothaer Geschäfte ab 1931 „Trödel und Unverkäufliches“ angeboten wurde.

In Zella-Mehlis verkaufte Albert Schiffmann dagegen hochwertige Schuhe der Marken „Salamander“ und „Mercedes“. Das Geschäft gehörte seiner Frau Frida. Aus ihrem Lebenslauf geht hervor, dass dort vier bis fünf Angestellte beschäftigt waren. Nach antisemitischen Angriffen wurden die Schiffmanns 1933 gezwungen, ihr Schuhgeschäft aufzugeben. Sie mussten das gesamte Warenlager und die Ladeneinrichtung an eine Angestellte übergeben. Diese war die Tochter des Hausbesitzers, der die Gewalt gegen die jüdischen Ladenbetreiber 1933 zu seinem finanziellen Vorteil ausnutzte.

In mehreren Passagen wird die jüdische Religion im Alltag Evas sichtbar. So notierte sie über einen Urlaub an der Ostsee, dass sie mit ihrer Tante dort zu einem Rabbiner gegangen sei. Sie führte dazu jedoch nichts weiter aus. Offenbar war der Besuch eines jüdischen Geistlichen für sie nichts Ungewöhnliches.

An anderer Stelle wird erwähnt, dass die ältere Schwester Dora zur Ausbildung bei einem Rabbiner in Frankfurt gewesen sei und ihr Bruder Bernhard an einer rumänischen Jeschiwa, einer Talmud-Schule, lernte. Evas Schwester Ilse war zionistisch eingestellt.

Als Evas Cousine Toni die Führung der Jüngerengruppe im Jungjüdischen Wanderbund abgab, übernahm Ilse die Gruppenleitung. Für die Hachschara-Ausbildung entschied sich Ilse offenbar ohne die Eltern zu fragen.

Eva selbst verbrachte einen Teil ihrer Freizeit in der Gothaer Ortsgruppe des Jungjüdischen Wanderbundes (JJWB). Die Mitgliedschaft in der jüdischen Jugendbewegung beschäftigte sie sehr. Das betraf zum einen die persönlichen Freiräume, die sie im JJWB erlebte. Zum anderen  setzte sie sich mit seinen zionistischen Zielen auseinander.

Eva bezog sich auf die religiösen Vorschriften, wie sie im Talmud erläutert werden. Sie betonte, dass sie die jüdischen Gesetze „wunderbar eingerichtet“ (21.11.28.) finde. Allerdings befürwortete sie, dass die traditionellen Regeln an die Zeit angepasst werden sollten: „Aber viele Gesetze, die für damals gut waren könnten heute geändert werden.“ (21.11.28.) Evas Haltung zur Religion steht somit auch für die Auflösung des traditionellen Judentums, das das Leben seiner Anhänger nicht mehr umfassend zu prägen vermochte. Das Judentum war statt dessen eine Konfession geworden, zu der deutsche Staatsbürger:innen jüdischen Glaubens zählten.

In einem christlichen Umfeld dachte Eva auch darüber nach, was es für die eigene Lebensplanung bedeutete, dem Judentum anzugehören. „Neulich sprachen wir über das Problem der Mischehen. Li Lischen ist am schnellsten damit fertig. Sie ist freireligiös und meint, die Frau muß sich nach dem Mann richten. Also würde sie jede Religion annehmen. Änne würde nur einen Katholiken heiraten. Auch sagt sie, ihre Eltern würden sie sonst rausschmeißen. Papa u. Mama würden es sicher auch nicht zulassen, wenn ich einen Andersgläubigen heiraten wollte. Ich möchte natürlich auch am liebsten einen Juden, aber wenn man sich nun gerade in einen andern verliebt? Was dann? Na, das wird sich alles finden.“ (d. 26.2.28.)

In ihrem jüdischen Selbstverständnis verglich sie sich oft mit ihrer katholischen Mitschülerin Anne: „In Erdkunde (auch Pat) sprachen wir von der Entstehung des Menschen u. überhaupt der Welt. Wenn nun Änne gefragt wird, was sie glaubt, dann überlegt sie: ‚Wie ist das bei uns in der kath. Kirche. Ach ja, wir glauben das und das.‘ Daß man auch etwas anderes glauben b oder nicht glauben kann, kommt ihr gar nicht in den Sinn. Änne wäre so recht ein Kind, wie Mama es will. An nichts denken, keine Probleme aufkommen lassen. Lieber ein Courths-Maler Buch lesen, als zum B. Jahrgang 1902.“ (15.2.29.)

Bemerkenswert ist, dass Eva durch technische Erfindungen, wissenschaftliche Theorien und den Medienwandel ihrer Zeit in Glaubensfragen eher bestärkt wurde: „Überhaupt glaube ich jetzt wieder eher, daß es einen Gott gibt. Es gibt jetzt so viele Wunder der Technik. Warum sollte es kein Wesen geben, das noch größere Wunder vollbringen könnte. Manchmal denke ich: Es gibt ein Wesen, das sich aus Zeitvertreib so ein Häuflein Menschen gebildet hat und sich an seinen Sogen und Mühen weidet; so ungefähr wie ein kleiner Junge Bleisoldaten hat. Wo ist aber dann das Wesen hergekommen? Der Darwinismus scheint mir auch ziemlich einleuchtend. Wie wird aber aus Nichts Etwas?“ (Leipzig, d. 11.10.28.)

Das Radio veränderte zwar das Wissen von der Welt. Das Neue ließ sich als Wunderding einer modernen Zeit aber auch religiös deuten: „Übrigens glaube ich wieder an Gott. D.h. ich habe je stets an ein mächtiges Wesen geglaubt. (An einen menschenähnlichen Gott glaube ich jetzt auch nicht) Jetzt bin ich aber überzeugt, daß es ein Wesen geben muß, das alles schafft. Wo ist aber dieses Wesen hergekommen? Es gibt ja jetzt auch Wunderdinge. Radio z. B. ist doch wunderbar.“ (Gotha, d.4.11.28.)

Der oft unterstellte Gegensatz von Religion, Technik und Moderne findet sich in Evas Denken nicht. Stattdessen erkannte sie Gemeinsames in schöpferischer Kraft, dem Zukünftigen und dem Radio als einem magischen Wunderding. Die Übertragung von Radiowellen und ihre Umsetzung in Töne wurden damals oft als Wunder bezeichnet. Es war für viele Zeitgenossen erstaunlich, dass man in Berlin und Gotha zur gleichen Zeit die gleichen Klänge und Geräusche hören konnte.

Jedoch erschien Eva die Existenz eines Gottes nicht zu jeder Zeit sicher, wenn sie betonte, dass sie wieder an Gott glaubte. Nachdem ihre Schwester Dora im März 1929 gestorben war, stellte sich für Eva die Frage nach einem gerechten Gott noch einmal grundsätzlich neu: „Aber ich glaube auch nicht an einen Gott, wenigstens nicht an eine allgewaltige, gute Macht. Weshalb sollte denn ein 22j. Mädel sterben, während eine 75j. Frau noch lebt? Diese Menschen! Da beugen sie demütig den Kopf und sagen: Gott will uns prüfen. Ha! Wenn ein Mensch einem Wesen unter ihm aus Lust Schmerz zufügt, will er es dann prüfen? Nein! Es gibt keinen guten Gott!“ (Gotha, 7.4.29.)

Ihren Vater Albert Schiffmann beschrieb Eva als frommen Juden. Über ihn und die Gemeinde in Gotha ist zu erfahren, dass er 1929 als Vertreter der Ostjuden in den Vorstand der Gemeinde gewählt wurde. Nach Evas Beschreibung schlugen innerjüdische Differenzen auch in der Gothaer Gemeindepolitik durch: „Papa ist jetzt in den Vorstand der jüdischen Gemeinde, als Vertreter der Ostjuden, gewählt worden. Nach großen Debatten haben sich Deutsche u. Ostjuden zusammengeschlossen.“ (17.1.29.)

Einer Gemeinde gehörte jeder an ihrem Ort lebende Jude an, soweit er nicht aus der Gemeinde ausgetreten war. Geleitet wurden die Gemeinden von den gewählten Repräsentanten. Der Wahlmodus für den Vorstand war dabei von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Teilweise war er noch vom Einkommen abhängig (Zensuswahlrecht). Frauen waren nicht wahlberechtigt.

1925 lebten in Gotha 348 Jüdinnen und Juden. 1933 waren es noch 264. Bei einer Gesamtbevölkerung von 45.000 Einwohnern lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung Mitte der 1920er Jahre bei 0,8 Prozent.

1904 war die jüdische Synagoge errichtet worden. Der 1870 neu angelegte jüdische Friedhof lag stadtauswärts an der Eisenacher Straße. Außerdem gab es in Gotha eine B‘nai B‘rith Loge eines 1843 in New York gegründeten jüdischen Ordensverbandes, eine jüdische Religionsschule, einen Israelitischen Frauenverein und jüdische Wohlfahrtsverbände.
 

Im Tagebuch finden sich keine direkten Einträge zu antisemitischen Vorfällen. Dennoch hat es auch in Gotha bereits vor 1933 Antisemitismus und Gewalt gegen jüdische Staatsbürger gegeben. So existierte in Gotha bis zum Verbot durch das Republikschutzgesetz 1922 eine Ortsgruppe der größten antisemitischen Massenorganisation. Der „Deutsch-völkische Schutz- und Trutzbund“ hatte bereits 1921 zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. 1927 wurde ein jüdischer Händler in Gotha angegriffen und verletzt. Antisemitismus zeigte sich auch darin, dass die Gothaer Ortsgruppe des Turnvereins Jahn keine jüdischen Mitglieder aufnahm.

In den letzten Tagebucheinträgen vom Frühjahr 1930 machte sich allerdings ein Stimmungswechsel bemerkbar. Am 4. April schrieb Eva, dass sie sich von anderen nicht mehr akzeptiert fühlte. Besonders traf sie, dass ihr Musiklehrer Stoll den Kontakt zu ihr mied. Wie Eva selbst angab, hatte sie mit ihm oft über Judentum und Chassidismus sprechen können: „Heute will ich mal von Herrn Stoll schreiben. Wir haben Singen und Klavierspiel bei ihm. Wir reden auch oft über außerschulische Dinge. Er ist (hauptsächlich den Mädchen gegenüber) gar nicht wie ein Lehrer. Er erzählt mir oft vom Judentum und Chassidismus.“ (d. 26.2.28.)

Den Grund für das plötzlich distanzierte Verhalten ihres Musiklehrers konnte sich Eva nicht erklären: „Es ist nicht wahr, dass ich keinen Menschen mehr leiden kann. Aber die ich leiden kann können mich nicht mehr leiden. Wenn ich bloß wüßte warum Herr Stoll mich nicht mehr leiden kann. Es kommt fast nie mehr vor, daß wir ein außerschulisches Wort zusammenreden …“ (4.4.30.)

Ihr Umgang an der Schule scheint sich in diesen Wochen weiter verschlechtert zu haben. Am 19. Mai 1930 notierte Eva: „Jeden Tag in der Schule, oder wenn ich einen aus meiner Klasse treffe, steigt es in mir hoch, daß ich kaum reden kann. Sie sind mir alle zuwider, so ekelhaft!, so blöde, taktlos, unfein, mit Ausnahme von 2, dreien …“ (19. Mai 30.)

Eva hat im Tagebuch nicht erklärt, warum sich Lehrer und Mitschüler anders verhielten. Daher  lässt sich letztlich nicht sagen, ob es antisemitische Feindseligkeiten oder andere Beschimpfungen und Verletzungen waren, durch die sie sich in der Schule bedrängt fühlte. Auch den Tod ihrer älteren Schwester Dora musste sie in dieser Zeit bewältigen und ein ganz normaler Schulalltag mag dabei geschmerzt haben.

Allerdings fiel die neue Tonlage mit einer politischen Zäsur zusammen. Am 23. Januar 1930 trat mit Wilhelm Frick der erste nationalsozialistische Politiker einer Landesregierung bei. Als Innen- und Volksbildungsminister Thüringens ließ er die politischer Gesinnung der Lehrkräfte überprüfen und schrieb Schulgebete vor. Der neue nationalsozialistische Minister machte selbst keinen Hehl daraus, dass seine „Thüringer Freiheitsgebete“ offen antisemitisch waren. Die SPD setzte vor dem Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches in Leipzig ein Verbot von drei der fünf Schulgebete durch, die gegen die Grundsätze der Weimarer Verfassung verstießen.

Rückblickend und mit dem Wissen um den Holocaust hat Eva Ebenstein (*Schiffmann) später ihren Kindern und Enkeln beschrieben, wie sie als jüdische Schülerin zum Beginn der 1930er Jahre von einigen Lehrern benachteiligt wurde und ihre Clique an der Begeisterung zweier Freunde für Hitler zerbrach.

 

Nun zur Sache. Bald fand ich heraus, daß „das nichts ist“. Ich mußte eine jüdische Freundin haben, da ich doch selbst jüdisch bin. Da bekam ich eine jüdische Freundinnen, meine Cousinen. Ich habe herausgefunden, daß diese auch nicht gut für mich passen. Da wünschte ich mir ein Tagebuch. Das ist nun meine beste Freundin. Ich will so tun, als schreibe oder erzähle ich ihr meine Erlebnisse und Gedanken. Es ist schade, daß das Tagebuch nicht auch sprechen kann. (Elbing, d. 27. Juli 1925)

So G. will, fahren wir Mittwoch Nacht nach Berlin, u. von dort nach Leipzig. Dort sollen wir ein blißchen bleiben, eigentlich über שבת aber ich will zurück nach Hause fahren. (Elbing, 3.8.25)

Augenblicklich haben wir Ferien. Dienstag, Schemini Azereth müssen wier wir wieder in die Schule. (Gotha, d. 16.10.27.)

Neulich war ich [beim] Jantef-Abend in den „Blauen Blusen“ mit Ilse. Erst durfte ich nicht, aber dann bekamen wir doch die Erlaubnis. Es sind russische Arbeiter. Es war sehr schön, sie sangen und tanzten. (Gotha, d. 23.10.27.)

Heute will ich mal von Herrn Stoll schreiben. Wir haben Singen und Klavierspiel bei ihm. Wir reden auch oft über außerschulische Dinge. Er ist (hauptsächlich den Mädchen gegenüber) gar nicht wie ein Lehrer. Er erzählt mir oft vom Judentum und Chassidismus. (d. 26.2.28.)

Neulich sprachen wir über das Problem der Mischehen. Li Lischen ist am schnellsten damit fertig. Sie ist freireligiös und meint, die Frau muß sich nach dem Mann richten. Also würde sie jede Religion annehmen. Änne würde nur einen Katholiken heiraten. Auch sagt sie, ihre Eltern würden sie sonst rausschmeißen. Papa u. Mama würden es sicher auch nicht zulassen, wenn ich einen Andersgläubigen heiraten wollte. Ich möchte natürlich auch am liebsten einen Juden, aber wenn man sich nun gerade in einen andern verliebt? Was dann? Na, das wird sich alles finden. (d. 26.2.28.)

Ich finde, es ist die Pflicht jedes Juden, Zionist zu sein. d.h. zu helfen, ein eigenes Land zu haben. Natürlich meine ich das nicht wegen Religion sondern weil wir Überreste eines alten Volkes sind, das wir erhalten müssen. Neulich sprach ein Lehrer in der Aula. Er sagte auch etwas von zerstreut sein in der ganzen Welt wie Zigeuner und Juden. Ich hätte ihm so gern gesagt: Bald sind wir es nicht mehr. Wir schaffen uns ein Land. ich finde immer, daß die Leute, die sagen: sie sind Deutsche jüdischen Glaubens, noch nie richtig überlegt haben. Ein klar denkender Mensch muß doch einsehen, daß wir ein Volk sind. Es müssen ja dann nicht alle im Lande wohnen. Es gibt ja auch Deutsche im Ausland. Nach dem 70j. babyl. Exil blieben auch viele in Babylonien. Unser Exil ist das gleiche, bloß so unendlich lange. (Gotha, d. 30.8.28.)


In der Schule haben wir jetzt viel zu tun. Außerdem habe ich Hebräisch und zweimal die Woche Heimabend bei Toni. (Gotha, d. 30.8.28.)

Überhaupt glaube ich jetzt wieder eher, daß es einen Gott gibt. Es gibt jetzt so viele Wunder der Technik. Warum sollte es kein Wesen geben, das noch größere Wunder vollbringen könnte. Manchmal denke ich: Es gibt ein Wesen, das sich aus Zeitvertreib so ein Häuflein Menschen gebildet hat und sich an seinen Sogen und Mühen weidet. so ungefähr wie ein kleiner Junge Bleisoldaten hat. Wo ist aber dann das Wesen hergekommen? Der Darwinismus scheint mir auch ziemlich einleuchtend. Wie wird aber aus Nichts Etwas? (Leipzig, d. 11.10.28.)


Übrigens glaube ich wieder an Gott. D.h. ich habe je stets an ein mächtiges Wesen geglaubt. (An einen menschenähnlichen Gott glaube ich jetzt auch nicht) Jetzt bin ich aber überzeugt, daß es ein Wesen geben muß, das alles schafft. Wo ist aber dieses Wesen hergekommen? Es gibt ja jetzt auch Wunderdinge. Radio z. B. ist doch wunderbar. (Gotha, d. 4.11.28.)

Das Judentum ist doch noch das Beste. Ich bin Nationaljude, trotzdem ich alle Gesetze und den Talmud usw. alles so wunderbar eingerichtet finde und die Leute Gelehrten bewundere. Aber viele Gesetze, die für damals gut waren könnten heute geändert werden. (21.11.28.)

Hanna Wiener aus der Untersekunda war neulich mit Änne beim kath. Pfarrer. Sie findet in ihrer Religion keine Befriedigung und wollte etwas über Katholizismus hören. Sie war ganz zufrieden mit der Unterredung. (21.11.28.)

Papa ist jetzt in den Vorstand der jüdischen Gemeinde, als Vertreter der Ostjuden, gewählt worden. Nach großen Debatten haben sich Deutsche u. Ostjuden zusammengeschlossen. (17.1.29.)

In Erdkunde (auch Pat) sprachen wir von der Entstehung des Menschen u. überhaupt der Welt. Wenn nun Änne gefragt wird, was sie glaubt, dann überlegt sie: ‚Wie ist das bei uns in der kath. Kirche. Ach ja, wir glauben das und das.‘ Daß man auch etwas anderes glauben b oder nicht glauben kann, kommt ihr gar nicht in den Sinn. Änne wäre so recht ein Kind, wie Mama es will. An nichts denken, keine Probleme aufkommen lassen. Lieber ein Courths-Maler Buch lesen, als zum B. Jahrgang 1902. (15.2.29.) 

Aber ich glaube auch nicht an einen Gott, wenigstens nicht an eine allgewaltige, gute Macht. Weshalb sollte denn ein 22j. Mädel sterben, während eine 75j. Frau noch lebt? Diese Menschen! Da beugen sie demütig den Kopf und sagen: Gott will uns prüfen. Ha! Wenn ein Mensch einem Wesen unter ihm aus Lust Schmerz zufügt, will er es dann prüfen? Nein! Es gibt keinen guten Gott! (Gotha, d. 7.4.29.)

Ilse ist ausgerissen, auf Hachscharah. Sie durfte nicht, da ist sie gegangen. Aber Pa u. Ma wollen sich Peßach mit ihr versöhnen. (11.3.30. nachts)

Anke John: Geschichte und Erinnerung an die Weimarer Republik. Tagebuch und Autobiografie Eva Ebensteins, geb. Schiffmann (1912-2003), In: Stadtverwaltung Gotha (Hg.), Gotha Illustre. Jahrbuch für Stadtgeschichte, Bd. 7, Gotha 2024, S. 135-148.

Judy Slivi: Gotha 1918 bis 1933. Stadt der Gegensätze, Nürnberg 2015.

Amtsblatt des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung, Jg. 9 (22.4.1930), Nr. 6, S. 1, zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jparticle_00530956 (Amtliche Veröffentlichung der Thüringer Schulgebete). 

Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 8.5.1930, S. 1, fes.imageware.de/fes/web/index.html.

Eva Schiffmann

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