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Ein burschiges Mädchen
Ihr Aussehen und ein anderer Umgang mit Sexualität bedeuteten Eva viel. Sie orientierte sich an Vorbildern in Filmen und Zeitschriften. Wie andere Jugendliche ihrer Zeit grenzte sie sich von den Moralvorstellungen der Erwachsenen ab.
Modernität stand bis Ende der 1920er Jahre für Demokratie und Gleichberechtigung.
- Warum war Eva ihrer Lehrerin „etwas zu burschig“?
- Was erwartete Eva von der Liebe?
Gedanken an die erste Liebe ließen Eva nicht los. Zwei Mitschülern räumte sie in ihrem Tagebuch dabei besonders viel Platz ein. Mit ihrem Klassenkameraden Erich Schmettow unterhielt sie auch noch Kontakt, nachdem dieser die Aufbauschule verlassen hatte. Stärker hingezogen fühlte sie sich jedoch zu Otto Geier.
Evas Beobachtungen der Pubertät stecken voller Emotionen und Spontanität. In Bezug auf ihr Äußeres schwankte sie zwischen dem Gefühl der eigenen Unvollkommenheit und dem Selbstbewusstsein, wie eine Neue Frau zu sein.
Bubi, Amazone, Frechdachs
Im Alter von 15 Jahren trug Eva einen praktischem Kurzhaarschnitt (Bubikopf). Sie galt als unternehmenslustig und sportlich, was dem neuen Frauenbild entsprach. In der Schule erhielt sie entsprechende Spitznamen, die sie im Tagebuch anführte: „Für solche und ähnliche Dinge bekam ich den Namen Frechdachs. Später, als ich den Bubenkopf hatten, nannten sie mich eine Zeitlang Bubi. Dann wieder Amazone.“ (d. 22.1.28.)
Dem neuen schlanken Schönheitsideal entsprach Eva nach den Ansichten ihrer Mitschüler:innen offenbar nicht ganz: „Da sagten sie alle: Ich sei hübsch. Ich finde mich aber nicht hübsch. Ich sehe nur immer ganz nett aus. Meine Haare sind auch ganz schön. D.h. die gefallen eigentl. auch andern mehr als mir. Ich möchte gern schwarzes Haar. Viele sagen: Ich sei dick, viele d ich sei nicht dick. Ich bin gerade so auf der Grenze, möchte aber gern dünner sein. Übrigens ist Lischen jetzt abgegangen. Änne hat einen Bubikopf. Also sind nur Bubik. in der Klasse. Resi, Änne [und] ich.“ (Leipzig, d. 11.10.28.) Eva beneidete ihre Cousine Käthe um deren Figur. Sie erwähnte, wie sie sich disziplinierte, um dem Körperideal durch Diät und Bewegung zu entsprechen. Dem schleichenden Trendwechsel gegen den Kurzhaarschnitt schloss sie sich ebenfalls an: „Ich lebe jetzt Diät und will viel Gymnastik machen. Meine Haare lasse ich jetzt zur Abwechslung wachsen. Es geht aber sehr langsam.“ (21.11.28.)
Wie Eva sich benahm und kleidete, erregte nicht nur zu Hause Anstoß, sondern auch in der Schule. Eva wollte die Kleidervorschriften nicht einsehen und ordnete sich auch den Erwartungen an ein zurückhaltendes Verhalten von Mädchen nicht unter. Ihre Lateinlehrerin Dr. Luise Vogel war für sie eine Frau von gestern, die bis zum Hals verschlossene Blusen und lange Röcke trug und argwöhnisch gegenüber Jungen und Mädchen war: „Die Neckerei stellte sie hin, als sei es zur einer ganz intimen Annäherung gekommen. Sie erklärt: ‚ein solches Mädel‘ würde von den Jungen verachtet. Man soll mit den Jungen reden, aber immer eine Fremdheit bestehen lassen usw. Zum Schluß: Ich Sie solle sich in dieser Beziehung nicht etwa nach mir richten, ich sei kein Vorbild, halt etwas zu burschig. Die verschrobene Schrulle kann mir mal bei Marburg begegnen (ein blöder Ausdruck). Sie will allerdings nur Gutes tun (Änne so als verirrtes Schäflein auf den rechten Weg zurückführen), versteht es bloß nicht.“ (23. Sept. 29)
Selbstverwirklichung im Beruf
Evas Lateinlehrerin durfte nur unterrichten, weil sie 1923 ihre Ehe beendet hatte. Die obligatorische Entlassung von Beamtinnen nach der Heirat (Lehrerinnenzölibat) war zwar 1919 abgeschafft, aber bereits im Oktober 1923 wieder eingeführt worden. Seitdem verbot sich für Beamtinnen oder Angestellte im öffentlichen Dienst die Ehe, wollten sie ihre Stelle behalten. Als Scheidungsgrund hatte Evas Lehrerin Dr. Luise Vogel indessen die Untreue ihres Ehemannes angeführt.
Im Tagebuch ist ein Gespräch Evas mit ihrer Mitschülerin Anne über das Lehrerinnenzölibat festgehalten, das Lebensplanungen und Berufswünsche unmittelbar betraf. Eva widersprach dem absoluten Anspruch auf persönliche Freiheit und berufliche Selbstverwirklichung, die Frauen im öffentlichen Dienst nur unverheiratet möglich war: „Änne konnte sich neulich gar keine nicht beruhigen über eine Lehrerin, die heiratete. ‚Na, die ist do doch verrückt. Sie hat eine feine Wohnung, viel Geld und es geht ihr so gut. Warum die bloß heiratet.‘ Das finde ich Quatsch. Wenn es mir noch so gut ginge und ich liebe einen, würde ich ihn heiraten.“ (d. 26.2.28.) Geschichten von Frauen, die in Film, Literatur und Presse erzählt wurden, regten die Schülerinnen an, über das alte Ideal der Ehe und eine aktive Rolle bei der Partnerwahl nachzudenken: „Ich würde nur einen Mann heiraten, den ich sehr lieb hätte.“ (d. 26.2.28.)
Ideal der Liebesheirat
Das Thema Ehe spielte für Evas Selbstverständnis als Jüdin eine besondere Rolle. Im Alter von 15 Jahren war sie dabei unsicher, ob sie die religiösen Erwartungen der Eltern erfüllen konnte oder ihr Leben anders gestalten sollte. Im Gegensatz zu Einwänden gegen interreligiöse Ehen konnte sie sich auch eine Liebe mit einem Nichtjuden vorstellen: „Neulich sprachen wir über das Problem der Mischehen. Li Lischen ist am schnellsten damit fertig. Sie ist freireligiös und meint, die Frau muß sich nach dem Mann richten. Also würde sie jede Religion annehmen. Änne würde nur einen Katholiken heiraten. Auch sagt sie, ihre Eltern würden sie sonst rausschmeißen. Papa u. Mama würden es sicher auch nicht zulassen, wenn ich einen Andersgläubigen heiraten wollte. Ich möchte natürlich auch am liebsten einen Juden, aber wenn man sich nun gerade in einen andern verliebt? Was dann? Na, das wird sich alles finden.“ (d. 26.2.28.)
Wie schwierig es war, eine glückliche Ehe zu führen, konnte Eva aus nächster Nähe bei ihren Eltern verfolgen: „Pa kümmert sich nicht so viel um alles. Er ist die ganze Woche in Mehlis, kommt Donnerstag Nacht nach Hause u. fährt Montag morgens weg. Die paar Tage ist es aber oft so schrecklich, daß man manchmal direkt erlöst ist, wenn er wieder weg fährt. Zu all dem kommt noch, daß die Geschäfte so schlecht gehen. Wir machen jetzt Total-Ausverkauf in beiden Gothaer Geschäften.“ (15.2.29.)
Eva, die fünf Geschwister hatte, fand attraktiv, dass einer Ehefrau Zeit und genügend Geld zur Verfügung standen, um eigenen Interessen nachzugehen: „Manchmal denke ich mir, ich wollte einen reichen Mann heiraten, viele Dienstboten halten, nichts tun, Kinder nur adoptieren usw. Aber es [ist] doch auch wieder nicht recht, daß ich so reich sein will und andere mir Dienstboten sein sollen.“ (8.1.28.27.) In vermögenden jüdischen Familien war es üblich, Kindermädchen oder Gouvernanten zu beschäftigen, obwohl die Ehefrauen nicht berufstätig waren. Um ihren Lebensstandard halten zu können, waren jüdische Ehepaare im 20. Jahrhundert zur bewussten Familienplanung übergegangen. Die Geburtenrate war um die Hälfte niedriger als in der nichtjüdischen Bevölkerung. Insofern konnte sich Eva auch eine Zukunft als finanziell abgesicherte und von Arbeit entlastete Hausfrau vorstellen. Der Umstand, dass sie sich einen reichen Mann angeln wollte, entsprach zwar nicht ihrem emanzipatorischen Ideal. Dass sie Kinder adoptieren wollte, hob sich aber wieder vom biologistischen Denken ihrer Zeit ab, nach dem Mutterschaft natürlich und hingebungsvoll zu sein hatte.
An anderer Stelle verwarf Eva die Vorstellung der Liebesheirat zugunsten der arrangierten Ehe: „Nur glaube ich, daß die Heirat das dümmste ist, was zwei Liebende tun können. Das ewige Zusammensein macht die Menschen kleinlich. Wenn man mal eine Ehe glücklich nennt, da lieben sie sich erst, dann werden sie immer gleichgültiger, bis sie so nebeneinander herleben. Das kann aber nur sein, wenn die äußeren Bedingungen vorhanden sind. Zuerst: Gute wirtschaftliche Lage. Früher habe ich immer die Vernunfts- od. Geldheiraten verurteilt. Jetzt nicht mehr. Wenn zwei Arme heiraten, werden sie auch unglücklich. Nach kurzer Zeit vergeht die Liebe, die Armut bleibt. Wie man nun sein Leben am besten gestaltet, weiß ich nicht. Vor dieser Frage muß ich noch ergründen, was überhaupt der Zweck des Lebens ist. Vielleicht nur, daß man so hinlebt und auf irgendeine Weise glücklich ist? Aber was ist denn das Glück?“ (17.1.29.) Auch in den Tagebucheinträgen zu Liebe und Ehe wird daher immer wieder deutlich, wie schwierig es war, die vervielfachten Möglichkeiten einer modernen Lebensplanung miteinander in Einklang zu bringen.
Erich Schmettow (Sachs)
Von den Annäherungsversuchen ihres Mitschülers Erich Schmettow (Spitzname: Sachs) fühlte sich Eva einerseits geschmeichelt: „Der Schmettow ist glaube ich, wirklich sehr verknallt in mich. Er fing einmal mit Mie Hellmund an. Dann dachte ich, er wollte mit Lischen anfangen, doch immer wieder versucht er es mit mir. Ich In letzer Zeit finde ich ihn ganz hübsch. Jeden Donnerstag nach der Lektüre bei Dr. Müller quatschen wir vor der Schule noch ein Weilchen.“ (d. 26.2.28.) Andererseits empfand sie Schmettows Annäherungsversuche als aufdringlich: „Der Sachs hat doch einen kleinen Spleen. Schon die ganze letzte Zeit war er immer ſo komiſch; und vorigen Sonnabend waren wir in Seebergen mit Dr. Müller, da Reifeprüfung war. Auf dem Hinweg ging ich mit Sachs und Dieter.“ (d. 13.3.28.) Besonders Schmettows Spendiergehabe auf einem Klassenausflug war Eva unangenehm: „Ich ſtand ſo an die Wand gelehnt. Da kam der Sachs und brachte mit Brille und Schok.[olade] Dr. Müller und die ganze Klaſſe ſah es und alle lachten. Wie mir Änne nachher ſagte, bin ich rot geworden. Da ſie alle guckten nahm ich die Schok., um nicht noch mehr Aufſehen zu erregen. Dabei war ich aber furchtbar wütend und hätte ſie ihm am liebſten vor die Flu Füße geklaſcht.“ (d.13.3.28.)
Erich seinerseits fühlte sich von Eva zurückgesetzt, die ihm deutlich zu verstehen gab, dass sie ein kameradschaftliches und gleichberechtigtes Verhältnis wollte: „Das ſei doch eine Beleidigung für ihn geweſen. Er hätte mir doch etwas beſtellen müſſen, u wo ich drei Std. bei einer Taſſe Kaffee ſaß. Er fragte ſich ſie auch, was das mit dem Froſch ſei. Er ſei doch immer auf dem Klavierzimmer geweſen. Montag Nachmittag erzählte er mir den ganzen Kitſch noch einmal. Ich ſagte ihm, wenn er meine, der Schüler müſſe das Mädchen bezahlen, hätten er den Kaffee der ad anderen auch bezahlen müſſen, u.ſ.w. Am Schluſſe ſagte er: ‚Na, wir ſind uns wieder einig. Schwamm über die Sache.‘ Er gab mir die Hand und ſchüttelte ſie kräftig.“ (d. 13.3.28.) Wenige Tage später berichtete Eva von einem letzten Spaziergang: „Montag Nachmittag war ich mit Schmettow ſpazieren. Er wollte es unbedingt. Ich ſollte ihm doch den Gefallen tun. Wir trafen uns ½ 4 Uhr an der Winterſchule. Es war mein erſtes Renz-de-Vous.“(d. 28.3.28)
1928 verließ Erich Schmettow die Aufbauschule. Ein Foto, das ihm Eva von sich geschenkt hatte, hing später wahrscheinlich über seiner Werkbank: „Freitag früh hatte ich in der erſten Std. Klavierübung. Ich wollte eigentlich nicht hingehen, aber Schm. bat mich darum. Erſt ſprachen wir über ganz gleichgültige Dinge. Dann ſagte er: ‚Haſt du dir unſer Geſpräch überlegt. Willſt du mein Freund sein?‘ ‚Ich will, ſogut ich kann.‘ Dann nahm er ein Bild heraus, das ich ihm auf ſein Bitten neulich ſchenkte und ſagte: ‚Das hänge ich über meine Werkbank.‘ Er hielt meine Hand feſt, aber mir graute es vor ihm und mein Atem ging ſo ſschwer. ‚Eva, haſt du mir noch etwas zu ſagen?‘ Ich ſtand auf und ſagte: ‚Wir müſſen jetzt hinunter gehen.‘ Der nächste Tag war der letzte Schultag.“ (2.4.28.)
Zum 16. Geburtstag bekam Eva von Ernst Operntexte geschenkt: „Übrigens hatte ich neulich Geburtstag. 16 Jahre. Ich finde das ſchrecklich alt und ärgere mich ſehr. Sachs hat mir ein Buch geſchenkt. Operntexte von Wagner.“ (31.5.28) Sie revanchierte sich: „Jetzt hat S. Geburtstag gehabt, da habe ich: Sternstd. der Menschheit v. Stefan Zweig gekauft u. es Heinz K. mitgegeben. Dann habe ich bloß auf eine Visitenkarte geschrieben: Herzl. Glückwunsch zum Geb.“ (Gotha, d. 1.1.1929) Die Geschenke zum Geburtstag lassen erkennen, was sich Eva und Ernst voneinander wünschten. Intellektuell konnten sich beide auf Augenhöhe begegnen. Obwohl Eva Schmettows Gefühle nicht teilte, pflegte sie aus freundschaftlicher Verbundenheit den Briefkontakt weiter: „Heute gab mir F. einen Brief von S. Er scheint etwas kühner zu werden. Unter dem Brief steht Gruß u. Kuß. Darüber muß ich ihn noch zu Rede stellen. Ich habe jetzt leider keine Zeit mehr. Also Schluß.“ (21.1.29.)
Otto Geier (Frosch)
Otto Geier (*1. Februar 1912), genannt Frosch, war ebenfalls Internatsschüler auf einer halben Freistelle. Er machte wie Eva Ostern 1931 sein Abitur. Auf dem Anmeldebogen zur Reifeprüfung findet sich die Bemerkung: „Besonders befähigt in Musik, war längere Zeit Leiter des Heimorchesters.“ Als Wohnort und Beruf des Vaters sind Gießübel (am Rennsteig) und Augensetzer angegeben. Augensetzer montierten in Heimarbeit Glasaugen in Puppenköpfe aus Porzellan. Im März 1925 arbeiteten die Eltern Max und Helene Geier dagegen noch als Kolonialwarenhändler, wie aus ihrem Antrag auf staatliche Unterstützung für die Schul- und Internatskosten hervorgeht.
Im Tagebuch versuchte Eva Klarheit über ihre Gefühle zu Otto Geier zu finden, der ihr offenbar recht eindeutige Avancen machte: „Er sagte dann: ‚Du wirst wohl schon gemerkt haben, daß ich schwer in Dich verliebt bin. Deine Worte haben mir nun einen Strich durch meine Pläne gemacht. Erst kam es mir immer so vor, als wärst Du nicht abgeneigt, aber wenn Deine Worte stimmen, weiß ich nicht, woran ich bin.‘ Da gerade andere Jungen in das Klavierzimmer kamen, konnte ich ihm erst auf dem Ausflug, den wir Dienstag machten, antworten. Ich sagte ihm, daß ich ihn gut leiden könne und wir wollen gute Freunde sein, an aber nicht zusammengehen, das fände ich nicht schön. Er sagte, er verstehe das nicht, ich solle ihm beweisen, warum ich es nicht fäschön fände. Das konnte ich aber nicht, und wir sind nicht weitergekommen.“ (10.12.27.)
„Ich möchte eigentlich gern mal wissen, was der Frosch wirklich von mir denkt. Neulich tat er ja mal wieder ganz verliebt, wollte mir allerlei Geheimnisse erzählen, tat es dann aber doch nicht, und jetzt reden wir wieder so zusammen, wie ich auch mir den andern rede. Ich bin selbst nicht richtig klar darüber, wie ich d. Frosch leiden kann. Manchmal kann ich ihn sehr gut leiden, dann mal mittel und manchmal find‘ ich ihn unausstehlich.“ (d. 26.2.28.)
„Ich habe Otto Geier sehr, sehr lieb. Und doch bin ich mir nicht ganz im Klaren darüber, wie ich für ihn empfinde. Wenn er mir das noch einmal sagte, wä was er damals sagte, wäre ich glücklich. Ich möchte so gern wissen, ob es damals wirklich so war und wie es jetzt ist. Ich denke so oft an ihn.“ (2.4.28.)
Viele Gespräche zwischen Jungen und Mädchen, die Eva im Tagebuch beschrieb, drehten sich um die Frage, ob jemand ein ernsthaftes Interesse zeigte: „Die Jungen haben zu Änne geſagt, ſie wüßten gar nicht, was ſie von mir halten ſollten, ob ich mit Frosch oder mit Sachs ginge. (d. 13.3.28.) Worte, Blicke und andere Zeichen von Verliebtheit werden gedeutet, die eigene Wirkung auf die Umschwärmten geprüft: „Otto Geyer hat jetzt eine Brille. Ich weiß gar nicht, ob er noch in mich verliebt ist. Manchmal kommt es mir vor als könne er mich gar nicht mehr leiden. Neulich sagte er: ‚Überall, wo Blödsinn gemacht würde, sei ich dabei.‘ Weil ich ins Kino gehe und gern tanze. Über das Tanzen schimpft er am meisten.“ (d. 22.1.28.) Knapp zwei Monate später notierte Eva: „Am beſten kann ich Otto Geier leiden. Er ſoll der ſchönste Junge vom ganzen Kaſten ſein. Mich ſelbſt finde ich in letzter Zeit mal wieder ſo häßlich, daß ich gar nicht verſtehen kann, wie ein Junge in mich verliebt ſein kann.“ (d. 13.3.1928) Nachdem Erich Schmettow die Aufbauschule verlassen hatte, schien sich Evas Aufmerksamkeit ganz auf Otto Geier zu richten: „Ich habe ihn ſo als Klaſſenkameraden ganz gut leiden mögen, aber wenn ich jetzt ſo an ihn denke, g kann ich ihn gar nicht mehr leiden. Ich weiß nicht, ob ich Otto G. liebe. Ich habe es mir überlegt, ich glaube, ich habe Sehnſucht nach Liebe. Aber vielleicht iſt das Liebe, wenn ich meine, daß er dieſe Sehnsucht befriedigen kann. Nun, ich weiß es nicht. Er will jetzt mit einem Mädel aus der Untertertia gehen. Heute hat er ihr einen ſchönen Gruß ſagen laſſen. Sie ist ſehr niedlich. Ich hab jetzt wenig Zeit. Heute iſt wieder, ſchönes Wetter. Ich habe gar keine Luſt mehr zur Schule du zum Lernen.“ (25.5.28.)
Aufgeklärte Zeit
Evas Mutter sprach abschätzig von der „aufgeklärten Zeit“ (17.1.29.). Sie war misstrauisch gegen den Umgang ihrer Töchter Ilse, Dora und Eva „mit Jungen“ und kontrollierte ihre Post. Den Briefwechsel mit Erich Schmettow musste Eva daher vor ihrer Mutter verheimlichen. Ihr Mitschüler Fritz Büschel sprang als Briefbote ein: „Dann ſagte er, er könne mir doch mal ſchreiben. Ich ſagte: Ja, aber meine Mutter lieſt alle Briefe. Er ſagte dann erſt: postlagernd. Aber dann einigten wir uns, daß er die Briefe an Fritz Büschel ſchickt, und dieſer ſie mir gibt.“ (d. 28.3.28.)
Es entsprach offensichtlich den Moralvorstellungen der Mutter, dass Sexualität nur in der Ehe ausgelebt und zudem nicht darüber gesprochen werden sollte. Orthodoxe Juden akzeptierten keinen Geschlechtsverkehr vor der Ehe. Während der Menstruation galt die Frau als unrein und durfte vom Mann nicht berührt werden. Eva war es unangenehm, über die körperlichen Veränderungen in der Pubertät zu sprechen. Im Alter von 15 Jahren notierte sie: „gestern abend im Bett haben wir uns noch unterhalten. Wir kamen so auf Menstruation und solche Dinge. Dora und Ilse sagten auch, daß sie jetzt wüßten wie es kommt und daß sie sich früher immer Gedanken gemacht haben. Mir l ist es so widerlich, von so etwas zu reden. Ich habe mir auch noch nicht überlegt, wieso es kommt. Auch wie die Kinder enſtehen, habe ich nur ſo eine Ahnung. Ich möchte es auch nicht wiſſen. Mir kommt es furchtbar und grauenhaft vor und ſo häßlich, daß ich mir ſchon feſt vorgenommen habe, mir nie ſelbst Kinder anzuſchaffen. Ich habe aber Kinder ſehr gern und will mir welche adoptieren.“ (2.4.28.)
Das Stigma, unverheiratet oder alleinstehende Mutter zu sein, war durch den Mangel an Männern nach dem Krieg aber auch nicht mehr ganz so groß. In der Arbeiterklasse hatte Sex außerhalb der Ehe schon immer eine Rolle gespielt. Obwohl dies nicht den Normen entsprach, zeigten sich nun auch junge Frauen aus bürgerlichen Elternhäusern für frühe erotische Erfahrungen offen. Eva gehörte dazu: „Eine Zeit dachte ich immer, ich würde sicher heiraten. Das denke ich nicht mehr. Lieben, ja, aber was man so liest und hört. In der Ehe gibt es fast immer Enttäuschung. Das g kann ich mir auch sehr gut vorstellen. Überhaupt finde ich, daß nur die Jugendzeit schön sein kann. Deshalb ärgere ich mich so bei jedem Geburtstag.“ (Leipzig, d. 11.10.28.)
Queere Gedanken las Eva in Tolstois Roman "Anna Karenina" (1877/78) hinein. Ihre Gefühle für Frauen scheinen durch die Schaupielerin Greta Garbo in der Romanverfilmung beflügelt worden zu sein. Im Abgleich ihres Kinoerlebnisses mit einem großen literarischen Werk erschienen Eva diese nun weniger anstößig zu sein: „Ich lese jetzt Anna Karenina, was mir sehr gut gefällt. Ich habe vor dem Lesen den Film gesehen und j denke jetzt beim Lesen immer an die Darstellerin: Greta Garbo. Sie ist bildschön. Ich bin direkt verliebt in sie. Ich habe bemerkt, daß ich mich in weibl. Wesen ebenso verliebe wie in männl. Ich fand das immer komisch, habe es aber jetzt auch in Anna Karenina gelesen." (Gotha, d. 1.1.1929.)
Evas Tagebuchaufzeichnungen belegen auch, dass sie Informationen über die damalige Reform des Prostitutionsgewerbes aufschnappte. Über uneheliche Kinder, die die Weimarer Verfassung (§121) mit ehelichen Kindern gleichstellte, machte sie sich ihre eigenen Gedanken: „Ich [habe] mal gehört, daß es erlaubt ist, daß Mädchen Prostituierte werden. Ich kann mir das gar nicht denken, daß es so etwas Schreckliches gibt. Lieber würde ich sterben. – Aber ich finde es genau so schlimm, wenn sich zwei heiraten, die sich nicht lieben. Ich finde es viel moralischer, wenn ein uneheliches Kind aus Liebe entsteht, als wenn ein eheliches ohne Liebe kommt. Aber eigentlich ist doch die Liebe auch bloß Sinnlichkeit?“ (Gotha, d. 4.11.28.)
Woher kommen die Kinder?
Sexuelle Aufklärung kam in Evas Jugend und Kindheit nicht vor, wie sie sich rückblickend erinnerte: „Viel früher, ich war wohl 4-5 J. ging ich mit Mama zu einer Bekannten, die ein Kind bekommen hatte. Ich fragte, warum sie im Bett liege, u. bekam zu Antwort: Der Storch hat sie ins Bein gebissen. Ich wollte aber wissen, warum sie das Bein nicht verbinde u. aufstehe. Die Antwort weiß ich nicht mehr. Ich glaubte es aber. Einige Zeit später sagte Ilse im Laufe eines Gesprächs: Ja, weißt Du denn, woher die Kinder kommen. Ich wollte es nicht sagen, dachte aber: Aus der Mutter, u. zwar aus dem Bauch. Ich überlegte mir daraufhin gleich, wie ich eigentlich zu dieser Auffassung gekommen sei, wußte es aber nicht, u. weiß es noch nicht. Mit 8, 9 Jahren wußten meine Kameradinnen immer viel mehr als ich. Sie flüsterten, erzählten sich Geschichten von Verführungen usw. Ich brannte vor Wißbegier, aber sie sagten immer ‚das ist nicht für Dich, Du bist so fein.‘ Manchmal hörte ich doch etwas, was ich aber nicht verstand. Ein Junge hätte ein Mädel betäubt und sie hätte auf einmal ein Kind bekommen usw.“ (29. Okt. 29.)
Evas Mutter konnte und wollte ihrer Tochter keine Vertraute und Ansprechpartnerin sein: „Ma liest alle Bücher, die wir lesen, will alles wissen, was wir im Vortrag hören, den Inhalt von jedem Film, den wir sehen wissen. Sie möchte sehr gern mein Tagebuch lesen. Das alles finde ich richtig. Eine Mutter muß sich doch um ihre Kinder kümmern. Ja, wenn sie aber das Wissen benutzt, um den ganzen Tag zu jammern über die Kinder, bei jedem Anlaß Anspielungen auf Gedanken macht, dann ist das dem Kind so widerlich, daß es sich daran gewöhnt, die Mutter zu belügen, alles zun verheimlichen, und daß es die Mutter nicht mehr liebt und ehrt.“ (15.2.29.)
Es gab zwar ein breites Angebot an Aufklärungsfilmen und Eheberatungsstellen in der Weimarer Republik. Dieses richtete sich aber vornehmlich an Erwachsene. Eine Ausnahme war das Buch von Max Hodann „Bringt uns wirklich der Klapperstorch?“. Eva lieh es sich von ihrer älteren Schwester Ilse. Mit 16 Jahren schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ich weiß nun alles u. finde es nicht mehr so schrecklich wie früher einmal. Aber ich kann mir das nur denken mit jemand, den ich so l sehr liebte, wie ich es mir jetzt kaum vorstellen kann.“ (Gotha, d. 4.11.28.)
Max Hodann: „Bringt uns wirklich der Klapperstorch?“
Max Hodann war Sexualwissenschaftler, Arzt und Kommunist. In seinem Buch "Bringt uns wirklich der Klapperstorch?" erklärte er in kindgerechter Sprache und anhand einprägsamer Grafiken, wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt zusammenhängen. Der Verkauf wurde zunächst durch das Landgericht Rudolstadt in Thüringen verhindert. Das Verbot zeigte, dass die zeitgenössische Sicht auf Liebe, Sexualität und Geschlechterrollen hochpolitisch war. Die „Vossische Zeitung“ kommentierte das Verkaufsverbot als „eine Sünde gegen die Republik“ (Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung vom 28.3.1928). Sexuelle Aufklärung und Liberalisierung wurden dagegen von nationalkonservativen und kirchlichen Vertreter:innen als ein Makel der Republik angesehen und wie diese bekämpft.
Erst nach Protestschreiben, Demonstrationen und einer Note des Internationalen Kongresses für Sexualforschung in Kopenhagen hob die Staatsanwaltschaft in Jena das Verbot wieder auf. Juristische Grundlage der Beschlagnahme des Aufklärungsbuches war das „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ von 1926. Gegen das Verbot stand jedoch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, das in Artikel 118 der Weimarer Verfassung garantiert war. Den Schutz der Meinungsfreiheit stützte auch ein Gutachten der Universität Jena. Das Buch Hodanns wurde aber herabgesetzt, indem es darin auch hieß: „Ein erzieherisch bedeutsamer Wert muß dem Buch abgesprochen werden, auch wenn es nicht als unzüchtig gelten kann.“ (Staatsarchiv Rudolstadt, Aktenbestand Greifenverlag zu Rudolstadt)
Eva sah das anders. Ein Jahr später wurde sie Leiterin einer JJWB-Jugendgruppe und nahm sich des Themas mit den 12- bis 15jährigen an: „Da ich gemerkt habe, wie sehr es sie interessiert, spreche ich mit ihnen über die sexuelle Frage. Trotzdem mit selbst manches noch nicht restlos klar ist, kann ich ihnen doch das nötige geben. Es ist aber doch schwer, gerade dieses Alter zu behandeln. Sie sind jetzt so richtig in den Flegeljahren. Wir verstehen uns jedenfalls gut u. kommen gern.“ (29. Okt. 29.)
TAGEBUCHEINTRÄGE
Der Schmettow ist glaube ich, wirklich sehr verknallt in mich. Er fing einmal mit Mie Hellmund an. Dann dachte ich, er wollte mit Lischen anfangen, doch immer wieder versucht er es mit mir. Ich In letzer Zeit finde ich ihn ganz hübsch. Jeden Donnerstag nach der Lektüre bei Dr. Müller quatschen wir vor der Schule noch ein Weilchen. (d. 26.2.28.)
Änne sagte neulich, sie könne sich gar nicht vorstellen, wie man einen Menschen so richtig lieben könne. Ich kann es mir sehr gut vorstellen. Ich glaube man würde denjenigen erstens sehr, sehr gern haben, zweitens seine Fehler (Fehler hat jeder Mensch) entweder gar nicht sehen oder entschuldigen, drittens alles für ihn tun können. Nur etwas ist mir noch nicht klar, ob der Mensch mehrere Male lieben kann. Es gehen so viele Mädchen mit Jungen. Manche gehen mit jedem, der mit ihnen gehen will. Aber manche haben sich auch sehr gern. Doch glaube ich nicht, daß das richtig Liebe ist. Ich würde nur einen Mann heiraten, den ich sehr lieb hätte. Änne konnte sich neulich gar keine nicht beruhigen über eine Lehrerin, die heiratete. „Na, die ist do doch verrückt. Sie hat eine feine Wohnung, viel Geld und geht ihr so gut. Warum die bloß heiratet.“ Das finde ich Quatsch. Wenn es mir noch so gut ginge und ich liebe einen, würde ich ihn heiraten.“ (d. 26.2.28.)
Wissenschaftliche Darstellungen und digitale Sammlungen
Hans-Joachim Bergmann: „Deutschland ist eine Republik, die von Rudolstadt aus regiert wird.“ Das Strafverfahren gegen Max Hodann und Karl Dietz im Rudolstadt des Jahres 1928 – zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Greifenverlages. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie (1990/1), Heft 117, S. 35–48.
Simplicissimus 1896 bis 1944, http://www.simplicissimus.info/index.php?id=6&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Bvolume%5D=29&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Baction%5D=showVolume&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Bcontroller%5D=YearRegister&cHash=6216d6f41aae8164be633784fbe44a01.
Landesarchiv Thüringen / Hauptstaatsarchiv Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium, Lehrer deutsche Heimschule Gotha, Bd. 4, 1920–1945.