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Emanzipation
Die Verfassung der Weimarer Republik erklärte Frauen und Männer für grundsätzlich gleichberechtigt und durchbrach damit die Vorstellung, dass die Geschlechter von Natur aus gegensätzlich seien. 1919 durften Frauen erstmals wählen und gewählt werden.
Neue Männer- und Frauenbilder wurden sichtbar. Auch der Umgang mit dem eigenen Körper veränderte sich. Liebesbeziehungen konnten neu und anders gelebt werden.
- Was war neu zwischen Frauen und Männern?
- Wie prägte das Bild der Neuen Frau den Alltag?
Im Vergleich mit anderen Ländern war die Sexualpolitik der Weimarer Jahre liberal. Einige Bereiche blieben davon jedoch ausgenommen. Trotz Kritik bestand nach § 218 des Strafgesetzbuches ein Abtreibungsverbot. Männliche Homosexualität wurde durch § 175 weiterhin kriminalisiert. Dagegen wurde der Umgang mit Prostitution 1927 reformiert.
Das Tempo, in dem sich die Veränderungen zwischen den Geschlechtern abspielte, wirkte auf viele verunsichernd, nicht wenige Menschen fühlten sich überfordert. Der Aufbruch von Frauen und eine freizügig gelebte Sexualität heizten daher die politischen Konflikte um die Republik an, die im völkischen und nationalsozialistischen Jargon als „verweibert“ diffamiert wurde.
Männlichkeit in der Krise
In der polaren Geschlechterordnung der Kaiserzeit existierte die Vorstellung vom starken, aktiven Mann und von der Frau, die von Natur aus als schwach galt. Sie sollte zur Geburt und Kindererziehung bestimmt sein und hatte sich ihm unterzuordnen.
Der Erste Weltkrieg sollte dieses traditionelle Männerbild bekräftigen und bewirkte das Gegenteil. Die Kriegserfahrung hatte die männliche Autorität untergraben. 2 Millionen Soldaten waren allein auf deutscher Seite getötet worden. 4 Millionen von 13 Millionen deutschen Soldaten waren im Krieg verletzt worden. Sie kehrten traumatisiert und körperlich beschädigt von der Front in die Familien zurück.
Mit der Niederlage waren aus Kriegshelden Verlierer geworden. Was stark und „männlich“ sein sollte, erschien damals so ungesichert wie selten zuvor. Neben kämpferischer Tapferkeit, Stärke und maskuliner Eindeutigkeit entwickelten auch Männer andere Haltungen und Einstellungen, wie etwa die Lässigkeit eines Dandys.
Neue Weiblichkeit – mehr als eine Mode
Die Krise des Mannes korresponierte mit dem Bild der „Neuen Frau“, das durch Film und Werbung verbreitet wurde. Mädchen und Frauen eiferten diesen neuen Vorbildern nach.
So zog eine neue Freizügigkeit in der Kleidung, im Lebenstil und in der Freizeitgestaltung ein, die sich vom traditionellen Ideal der Weiblichkeit unterschied. In den 1920er Jahren trugen Frauen bequeme und schlicht geschnittene Kleidung. Röcke und Kleider wurden kürzer. Zur Durchsetzung dieser Mode trugen dabei nicht nur die Berufstätigkeit von Frauen und der Mangel an Stoffen nach dem Krieg bei, sondern auch die Erfindung von Druckknöpfen und Reißverschlüssen.
Eva zeigte sich vom Trend der praktischen und bequemen Mode begeistert: „Seit es diesen Sommer so heiß war, geht alles ohne Strümpfe. Ich nat. zuerst mit. Darob erregten sich die Keuschheitselemente in unserer Schule. Heinrich u. Luise. Einmal standen Heinrich u. Pat an der Treppe, als ich hinaufging. Darauf f ga Nachher kam Pat in die Klasse, schimpfte auf die strumpflose Mode, u. nannte sie unanständig (d. h. er genierte sich, das zu sagen, u. sagte unordentlich.) Er wollte das nicht haben. (Ich kam weiterhin ohne Strümpfe) Der Waschlappen hatte sich mal wieder mit Heinrichs Seife eingeschmiert. Nett war, was Luise zu kleinen Untertertianerinnen sagte; ob sie denn gar kein Taktgefühl hätten, wo Jungen in der Schule seien. Sie sollten sich dann wenigstens lange Röcke anziehen.“ (23. Sept. 29)
Die kurzen Rocklängen sowie Seiden- und Kunstseidenstrümpfe ließen Beine in den 1920er Jahren verführerisch schimmern. Ihr erotischer Anblick wurde in Film („Der Blaue Engel“) und Schlager („Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hät“) in Szene gesetzt und besungen. Auch Schuhe wurden sichtbar und mit Schnallen und Absatzformen modisch aufgewertet.
Sport und Bewegungsfreiheit
Dem alten Weiblichkeitsideal von Anmut und Grazie entsprachen vor allem gymnastische Übungen. In den Zwanziger Jahren gewannen dagegen auch körperliche Kraft und Leistungsfähigkeit für Frauen an Attraktivität. Sie entdeckten die Freiheiten anderer Sportarten für sich.
Als Eva mit einem Zeigestock vor dem Unterricht eine Speerwerferin imitierte, nannte sie ein Lehrer "Amazone". Nach der griechischen Mythologie waren Amazonen Frauen, die wie Männer in den Kampf zogen: „Ich stand gerade mit dem Rücken zur Tür wie ein Speerwerfer mit dem Zeigestab in der Hand. Dan kam gerade Steinmeyer in die Klasse. Er sah es und sagte, ob ich eine Amazone geworden sei.“ (d. 22.1.28) Im Winter 1929 freute sich Eva über ein paar Schneeschuhe, die sie sich schon länger gewünscht hatte und nun endlich geschenkt bekam: „Ich habe Schneeschuhe bekommen u. freue mich riesig darüber.“ (Gotha, d. 1.1.1929.) Neben dem Schneeschuhlaufen war auch das Boxen in den 1920er Jahren zu einem bei Männern und Frauen respektierten Freizeitsport geworden. Eva wünschte sich auch einen Punchingball, an dem sie ihre Wut auslassen konnte: „Ich möchte einen Punching-Ball haben, und so lange meine Wut an ihm auslassen, bis ich halbtot bin.“ (19. Mai 30.)
Während es Eva hauptsächlich um Bewegungsfreiheit und Geselligkeit ging, war ihre Mutter alarmiert. Sie setzte ihre Verbote aber offenbar nie durch: „Als ich die Schneesch. bekam, sagte Ma gleich, ich sollte ja nicht mit Jungen fahren. Neulich fuhren einige von meiner Klasse. Sie fragten mich, ob ich auch käme. Ich sagte Ja, wollte aber mit einigen Mädels hinfahren. Die wollten dann nicht, so ging ich mit den Jungen. Es war ganz nett, sehr harmlos. Da ich allein weggegangen war, fragte mich Ma, wen ich getroffen hätte. Ich: Ein paar Mädels. Ma: Fahren die Jungen aus d. Klasse nicht. Ich: Doch. Ma: Haben sie Dich bestellt. Ich: Ach.“ (17.1.29.)
Liebe und Sexualmoral
Besonders deutlich machte sich der Unterschied zum Kaiserreich in Liebesbeziehungen bemerkbar. Sie wurden trotz des gesetzlichen Verbots auch von Homosexuellen ausgelebt, die in der Weimarer Republik sichtbar wurden.
Einflussreich war das Modell der Kameradschaftsehe. Es beruhte auf einem Konzept des amerikanischen Jugendrichters Ben Lindsey, der Scheidungen ohne Verpflichtung zum Unterhalt des anderen forderte. In Deutschland wurde die Kameradschaftsehe als Form des gleichberechtigten Zusammenlebens von zwei freien Menschen diskutiert. Frauen wurde dabei ein Recht auf erfüllte Sexualität und ein Liebesleben vor der Ehe zugestanden.
Sexuelle Aufklärung galt als Gebot der Stunde. Vorträge und Kinofilme über Sexualerziehung und Familienplanung waren nachgefragt. Broschüren und Eheratgeber erzielten Rekordauflagen. Sexualberatungsstellen wurden gegründet.
In der Weimarer Republik stellte die Ehe nicht mehr die einzige Form einer Lebensführung für Frauen dar, die anerkannt war. Die Scheidungszahlen verdreifachten sich. Jedoch entsprach die reale Lebenssituation vieler alleinstehender Frauen wenig dem emanzipierten und unabhängigen Frauenbild, das durch Kino und Werbung verbreitet wurde. Die geringen Gehälter von Verkäuferinnen und Sekretärinnen boten letztendlich keine realistische Alternative zur Ehe- und Familienorientierung und den alten Geschlechterrollen.
Ehe im Judentum
Jüdisch-jüdische Eheschließungen sollten die Zukunft und den Zusammenhalt der religiösen Gemeinschaft sichern. Allerdings wurden in den 1920er Jahren 17 Prozent aller Ehen von Juden mit Partner:innen anderer Religionen geschlossen. Dabei heirateten mehr jüdische Männer als Frauen christliche Partnerinnen. Für jüdische Frauen wurde es dadurch schwieriger, einen jüdischen Mann zu finden.
Wie in anderen Religionen auch übernahmen jüdische Frauen und Männer bestimmte Aufgaben in Familie und Gemeinde. Jüdische Männer waren nach den Lehren des Talmuds zum Lesen der Tora verpflichtet. Sie hatten leitende Funktionen in der Gemeinde inne. Jüdische Frauen sollten sich um den Haushalt und um die Vorbereitung jährlicher Feste und des Sabbats kümmern. Die Erziehung der Kinder und die Vermittlung jüdischer Sexualnormen zählte zu den Aufgaben der Mutter.
In der Beschreibung des Verhältnisses zu den Eltern ließ sich Eva daher vor allem über die meist schwierige Beziehung zu ihrer Mutter aus. Der Vater war kaum anwesend, zumal er das Schuhgeschäft in Zella-Mehlis führte. Er übte offensichtlich keinen entscheidenden Einfluss auf seine Kinder aus. „Obwohl ich Papa nicht liebe, habe ich ihn gern. Oft tut er mir leid. Er arbeitet so viel u. hat wenig Freude.“ (Gotha, d. 1.1.1929.) Auffallend sind die verhältnismäßig große Freiheiten, die Eva in ihrer Freizeit und im Umgang mit Jungen genoss. Ihrem Unmut über die verstockten Ansichten und das mangelnde Vertrauen der Mutter zu ihren Töchtern ließ sie im Tagebuch freien Lauf: „Ma weiß eben nicht, daß man anders zu seinen Kindern stehen muß, wenn sie Vertrauen haben sollen. Ilse sagte mir, daß Dora einmal zu Ma gesagt hat, sie könne eben kein Vertrauen zu ihr haben.“ (17.1.29.) Eva setzte sich auch viel mit ihrem eigenen Verhalten auseinander. Ob sie es für richtig hielt, machte sie von ihrem Blickwinkel abhängig: „Mama sagte, ob sie mich denn mit gutem Gewissen mit all den Jungen zusammenlassen könnte. Ich sagte ihr, es sei doch selbstverständlich, daß ich mich immer anständig benehme. ich sagte das mit gutem Gewissen, wenn ich auch unter Anständigkeit manches anders verstehe als Ma. Sie würde es sicher nicht passend finden, daß wir uns mit den boys über Liebe u. Ehe unterhalten.“ (Gotha, d. 7.4.29.)
Auslegung und Einhaltung von Verhaltensweisen hingen davon ab, wie religiös eine Familie war. In orthodoxen jüdischen Gemeinden und Familien herrschte eine strenge Geschlechtertrennung, die jedoch durch andere Anschauungen zunehmend an Bedeutung verlor. Sexualität wurde im Judentum immer wieder kontrovers diskutiert. Im Grunde respektierte Eva die traditionellen Erwartungen an ein Mädchen: „Ich denke jetzt manchmal, ach, wenn jetzt ſo ein hübſcher boy käme, würde ich ein bißchen zum Vergnügen mit ihm gehen. d. h. ich dachte es vor kurzer Zeit und habe das jetzt beinahe wieder überwunden. Es verträgt ſich nicht mit meiner Ideologie.“ (5.9.28.) Sie erwartete aber, dass die jüdischen Gebote anpassungsfähig sein sollten. Eva hielt es für möglich, zeitgemäß in religiösen Belangen zu denken: „Das Judentum ist doch noch das Beste. Ich bin Nationaljude, trotzdem ich alle Gesetze und den Talmud usw. alles so wunderbar eingerichtet finde und die Leute Gelehrten bewundere. Aber viele Gesetze, die für damals gut waren, könnten heute geändert werden.“ (21.11.28.)
Wissenschaftliche Darstellungen
Sabine Becker: Experiment Weimar. Eine Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933, Darmstadt 2018.
Kathleen Canning: Women and the politics of gender. In: Anthony Mc Elligott (Hg.): Weimar Germany, Oxford 2009, S. 146–174.
Irmgard Maya Fassmann: Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865–1919, Hildesheim / Zürich / New York 1996.
Moritz Föllmer: Auf der Suche nach dem eigenen Leben. Junge Frauen und Individualität in der Weimarer Republik. In: Ders. / Rüdiger Graf (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main / New York 2005, S. 287–317.
Sharon Gillermann: Deutsche Juden in der Weimarer Republik. In: Nadine Rossol, Benjamin Ziemann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 647–676.
Jochen Jung: Das veränderte „Gesicht der weiblichen Generation“. Ein Beitrag zur politischen Kulturgeschichte der späten Weimarer Republik. In: Gabriele Metzler, Dirk Schumann (Hg.): Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, S. 217–253.
Marion A. Kaplan: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, Hamburg 1997.
Ute Planert: Körper, Sexualität und Geschlechterordnung in der Weimarer Republik. In: Nadine Rossol, Benjamin Ziemann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 595–618.
Yvonne Rieker: Kindheiten. Identitätsmuster im deutsch-jüdischen Bürgertum und unter ostjüdischen Einwanderern 1871-1933, Hildesheim / Zürich / New York 1997.
Desanka Schwara: Zwischen traditioneller Norm und Akkulturation: Junge Tagebuchschreiberinnen und -schreiber aus Osteuropa. In: Christiane E. Müller, Andrea Schatz (Hg.): Der Differenz auf der Spur. Frauen und Gender in Aschkenas, Berlin 2004, S. 201–229.