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Jüdische Jugendbewegung
Am Anfang des Tagebuchs notierte Eva nicht nur wie alt sie war, wo sie wohnte und wie viele Geschwister sie hatte. Sie betonte auch, dass sie Mitglied im Jungjüdischen Wanderbund ist.
- Welche Ziele verfolgte der Jungjüdische Wanderbund?
- Was bedeutete die Mitgliedschaft für Jugendliche?
Nach außen trat der JJWB als eine Jugendorganisation auf, indem er Ziele und Inhalte der zionistischen Bewegung übernahm.
Der bündische Aufbau und die Praktiken im JJWB stammten dagegen aus der autonomen Jugendbewegung. Auf den Fahrten, Lagern und drei Bundestagen nahe dem Hohen Meißner lösten sich jüdische Jugendliche aus Elternhaus und Schule und erprobten selbstbestimmt neue Formen des Zusammenlebens.
Der Jungjüdische Wanderbund als Teil der zionistischen Bewegung
Die Bewegung des Zionismus entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Sie war sowohl eine spirituelle als auch eine politische Erneuerungsbewegung und zielte auf die Heimkehr der Juden in das historische „Heilige Land“.
Das Ziel, einen „Judenstaat“ zu errichten, hatte mehrere Gründe: die antisemitischen Pogrome in Osteuropa, der Eindruck, dass die gesellschaftliche Integration von Juden gescheitert war und die Befürchtung, dass durch den Antisemitismus und den erzeugten Anpassungsdruck jüdische Traditionen verloren gingen. Der erste Zionistenkongress fand 1897 in Basel statt.
In einem zionistischen jüdische Nationalstaat sollten die Juden als ein Volk und nicht als Religionsgemeinschaft zusammenleben. Durch Landkauf und die Förderung der Einwanderung nach Palästina sollte diese Vorstellung verwirklicht werden.
Politisch mussten die Zionisten mit der britischen Mandatsmacht verhandeln. Die Balfour-Deklaration 1917 gab ihrer Hachscharah- und Alija-Bewegung Aufwind.
Großbritannien übernahm 1920 vom Völkerbund das Mandat für die Verwaltung Palästinas und kontrollierte die Einreise ins Land. Besonders streng wurde die Vergabe von Einreisegenehmigungen in wirtschaftlichen Krisenzeiten gehandhabt. Auch Proteste der arabischen Bevölkerung bewirkten Einreisebeschränkungen. Seit den 1920er Jahren kam es vermehrt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Siedlern und der arabischen Bevölkerung.
Bis 1933 war die zionistische Bewegung in Mittel- und Westeuropa eine zahlenmäßig kleine Bewegung. Bedeutend war die Strömung des sozialistischen Zionismus. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Gothaer Arzt und Sozialdemokrat Fritz Noack. Noack war in der Gothaer Gruppe des JJWB und in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) aktiv. 1925 hielt er die Hauptrede auf dem JJWB-Führertag in Gotha.
Viele JJWB-Mitglieder stammten aus Kleinstädten und ländlichen Regionen. Ihre Eltern waren nicht assimilierte, aus Osteuropa stammende Juden. 1925 zählte der Jungjüdische Wanderbund schätzungsweise 1500 Mitglieder, die in 38 Ortsgruppen organisiert waren.
Ziele des Jungjüdischen Wanderbundes waren die Vermittlung jüdischer Kultur und Traditionen sowie der Aufbau einer sozialistischen, jüdischen Gemeinschaft in Palästina. Seine Mitglieder wurden dazu aufgefordert, die Sprache Hebräisch zu lernen und nach der Schulzeit eine landwirtschaftliche oder handwerkliche Ausbildung zu absolvieren. Im Anschluss sollten sie nach Palästina emigrieren und in einer landwirtschaftlichen Siedlung (Kibbuz) leben.
Im Kibbuz sollte das Zusammenleben basisdemokratisch organisiert werden. Körperliche Arbeit wurde besonders wertgeschätzt, privater Besitz dagegen abgelehnt. In der Geschlechtervorstellung des Zionismus galten Frauen als Bewahrerinnen der jüdischen Kultur und Tradition. Sie waren für die religiöse Gestaltung des Familienlebens zuständig.
Der Jungjüdische Wanderbund als Teil der Weimarer Jugendbewegung
So wie der Zionismus entstand auch die Jugendbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit hatte sich die Idee von „Jugend“ als eigenständige Lebensphase etabliert. Sowohl bürgerliche als auch proletarische Jugendliche wehrten sich gegen die Vereinnahmung durch den Staat und die Wilhelminische Gesellschaft.
In Wandergruppen begehrten sie gegen die Gängelung und autoritäre Erziehung von Schule und Elternhaus auf. Ihr Wunsch nach einer einfachen Lebensweise, die im Einklang mit der Natur stand, hing zudem eng mit den Folgen der Industrialisierung und der Ablehnung der Großstädte zusammen.
Die Erneuerung des Lebens war eine Grundforderung der Jugendbewegung. Leitend sollte die Tat, nicht das Lippenbekenntnis sein. Autoritäten und traditionelle Lebensmodelle der Erwachsenen wurden in Frage gestellt. Die neue jugendliche Identität bildete sich in Liedern, Kleidung und Ritualen ab. Heimabende und Fahrten der Gruppen wurden von den Jugendlichen selbst und nicht von Erwachsenen organisiert und geleitet.
Insbesondere Mädchen und jungen Frauen erschlossen sich in der Jugendbewegung Freiräume. Auf den Fahrten wurden sie selbständiger und traten selbstbewusster auf. Allerdings mussten sich junge Frauen auch gegen antifeministische Anfeindungen und das Ideal des Männerbundes behaupten. Die so aufgeworfene „Mädelfrage“ verlangte eine besondere Rechtfertigung ihrer Teilnahme.
In der Weimarer Republik zählte die Bündische Jugendbewegung 51.000 Mitglieder. Ihre bekannteste Organisation war die Wandervogelbewegung. Im Vergleich dazu hatten Jugendparteiorganisationen deutlich mehr Mitglieder. So waren in der Arbeiterjugendbewegung in den 1920er Jahren 368.000 Jugendliche organisiert.
Der erste Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß 1912 ist nicht allein mit dem Wunsch nach einer eigenen jüdischen Identität zu erklären. Seine Gründung war auch eine Reaktion auf den Antisemitismus und auf völkisch-rassistische Ideen, die in der allgemeinen Jugendbewegung Zuspruch fanden. Vor 1933 organisierten sich zehn Prozent der jüdischen Jugendlichen unter 25 Jahren in einem Bund der Jugendbewegung.
Die Bünde der jüdischen Jugendbewegung waren ebenso heterogen wie die Strömungen im Judentum. Sie lassen sich nach religiösen, liberalen und zionistischen Überzeugungen unterscheiden. Der Jungjüdische Wanderbund, in dem Eva Schiffmann organisiert war, wurde 1920 gegründet. Seine Entstehungsgeschichte ist eng mit dem zionistischen Jüdischen Wanderbund Blau-Weiß und Brith Haolim (Bund der Aufsteigenden) verbunden.
Wissenschaftliche Darstellungen und digitale Sammlungen
Artikel „Hachschara“. In: Georg Herlitz, Bruno Kirschner, Ismar Elbogen (Hg.): Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Wissen in vier Bänden, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, S. 1315.
Michael Brenner: Geschichte des Zionismus, München 2002.
Burg Drei Gleichen im Thüringer Becken, Foto: Franz Müller, undatiert, SLUB Dresden / Deutsche Fotothek, http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/72041460.
Laura Dolezich: Jüdisch, weiblich, jugendbewegt – Innen- und Außensichten auf den Jungjüdischen Wanderbund anhand eines Tagebuchs aus den 1920er Jahren, Staatsexamensarbeit, Jena 2020.
Laura Dolezich: Zwischen Hachschara und Studium – Innensichten auf den Jung-Jüdischen Wanderbund anhand des Tagebuchs von Eva Schiffmann. In: Meike Baader, Alfons Kenkmann (Hg.): Jugend im Kalten Krieg, Göttingen 2021, S. 325– 332.
Yotam Hotam (Hg.): Deutsch-jüdische Jugendliche im „Zeitalter der Jugend“, Göttingen 2004.
Jungjüdischer Wanderer. Fahrtenblätter des Jungjüdischen Wanderbundes, 4. Jg. (März 1924), Heft 2-3, S. 14, https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/9570308?query=jungj%C3%BCdischer%20wanderer.
Irmgard Klönne: Jugend weiblich und bewegt. Mädchen und Frauen in deutschen Jugendbünden, Stuttgart 2000.
D. Curt Nawratzki, "Das neue jüdische Palästina", Jüdischer Verlag, Berlin 1919. Palästina, ganz, mit Ostjordanland (1916−1951), Kartensammlung. Forschungsbibliothek Gotha − Sammlung Perthes. SPK 30.29 A (07). Verlag Justus Perthes, Gotha o.J.
CC BY-SA 4.0, https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00017480/SPK-30-29-A-07_00019.tif.
Ulrike Pilarczyk, Ofer Ashkenazi, Arne Homann (Hg.): Hachschara und Jugend-Alija. Wege jüdischer Jugend nach Palästina 1918–1941, Gifhorn 2020.
Ruine Brandenburg im Werratal, vor 1922, Foto: Paul Wolff, SLUB Dresden / Deutsche Fotothek, http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/70053421.
Barbara Schäfer: Zionismus. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 36, Berlin 2004.
Carsten Schliwski: Geschichte des Staates Israel, Ditzingen 2018.
Zentralrat der Juden in Deutschland (Hg.): Die jüdische Jugendbewegung. Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung, Berlin 2021.