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Jüdischsein
In der Weimarer Republik waren Juden gleichberechtigt. Sie besaßen das aktive und passive Wahlrecht und hatten Zugang zu allen öffentlichen und politischen Ämtern. Artikel 136 der Weimarer Reichsverfassung garantierte die Religionsfreiheit.
In den Selbstbezeichnungen als Jüdinnen und Juden, deutsche Juden oder jüdische Deutsche drückten sich unterschiedliche Identitäten und Zugehörigkeitsgefühle aus.
- Welche Rolle spielten Juden als Bürger:innen der Weimarer Republik?
- Was bedeutete es für die Gründung eines jüdischen Staates einzutreten?
Juden waren im öffentlichen Leben der Weimarer Republik sichtbar, obwohl sie nur eine kleine Minderheit darstellten. Sie hatten einflussreiche Positionen in Politik und Kultur. In akademischen Berufen, vor allem im medizinischen und rechtswissenschaftlichen Bereich waren sie überdurchschnittlich stark präsentiert.
Wie keine andere Gruppe traten Juden in Deutschland für die liberale Demokratie ein.
Jüdischsein in der Weimarer Republik
Jüdinnen und Juden waren Weimarer Deutsche mit all ihren damaligen Problemen und Konflikten. Sie stritten um Glaubensfragen und um die beste gesellschaftliche Ordnung. Zugleich aber waren sie eine Minderheit, deren Status und Sicherheit als Staatsbürger:innen immer wieder in Frage gestellt wurde.
In der Weimarer Republik übernahmen Juden erstmals politische Führungspositionen. Bekannt waren unter anderen der spätere Nobelpreisträger Albert Einstein und der Zeitungsverleger Rudolf Mosse, die Mitbegründer der linksliberale deutschen Partei DDP waren. Außerdem der Staatsrechtler Hugo Preuß, der die Weimarer Verfassung entwarf. „Judenpartei“ und „Judenrepublik“ waren zugleich antisemitische und antirepublikanische Bezeichnung. Es blieb nicht bei der rechten Propaganda, wie 1922 der Mord an Außenminister Walther Rathenau zeigte.
Die Haltung des jüdischen Bürgertums zur Demokratie war grundlegend positiv. Sie war unabhängig davon, ob es sich um jüdische Intellektuelle handelte, die die eigene Kultur wiederbeleben wollten oder um jüdische Nationalisten, die einen jüdischen Staat anstrebten und ihre Zukunft in Palästina sahen.
Trotz aller politischer Differenzen ging es Juden um das Überleben der Republik. Bei den Wahlen verhielten sie sich anders als viele andere Deutsche, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder Weltanschauung abstimmten. Die jüdische Bevölkerung hielt nicht nur die längste Zeit am linken Liberalismus fest. Sie war auch bereit, zur Rettung der Weimarer Republik die SPD oder die katholische Zentrumspartei zu wählen, auch wenn deren Politik mit eigenen Überzeugungen ansonsten oft wenig übereinstimmte.
Das Ergebnis der Reichstagswahlen 1930 war für die jüdische Bevölkerung alarmierend. Die Bedrohung kommentierte die zionistische "Jüdische Rundschau" unter der Schlagzeile "64000000 nationalsozialistische Wähler. Niederlage der bürgerlichen Demokratie" so: "In Deutschland leben ungefähr 560000 jüdische Seelen. Auf jede jüdische Seele kommen also 11 erwachsene Nichtjuden, die einem radikal-antisemitischen Programm zugestimmt haben und bereit sind, mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln die Juden zu schädigen. Das ist eine Tatsache, die in krassester Weise die Situation der deutschen Juden charakterisiert." (Jüdische Rundschau vom 16.9.1930, S. 1)
Die jüdische Minderheit
Der Anteil der jüdischen Deutschen an der Gesamtbevölkerung betrug in der Weimarer Republik weniger als einen Prozent. 19 Prozent aller Jüd:innen, die 1925 in Deutschland lebten, waren im Ausland geboren.
In der Mehrheit handelte es sich dabei um osteuropäische Jüdinnen und Juden. Sie waren seit Ende des 19. Jahrhunderts vor Pogromen aus dem Russischen Zarenreich und dem Habsburgerreich geflohen oder infolge des Ersten Weltkriegs als Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen. Die sogenannten Ostjuden pflegten oft andere kulturelle Traditionen als jüdische Deutsche, die seit mehreren Generationen im Reich lebten.
Ab Mitte der 1920er Jahre war die jüdische Minderheit eine zahlenmäßig abnehmende Gruppe der deutschen Bevölkerung. Dafür gab es mehrere Gründe: ein spätes Heiratsalter, die Anwendung von Verhütungsmitteln und zunehmend mehr Ledige führten zu niedrigen Geburtenraten und einem relativ hohen Altersdurchschnitt. Darüber hinaus trugen konfessionell gemischte Ehen zwischen christlichen und jüdischen Menschen zur abnehmenden Entwicklung der jüdischen Bevölkerung bei. 1900 lebte jede bzw. jeder zehnte jüdische Deutsche in einer Ehe mit einer Christin oder einem Christen. 1930 war es bereits jede:r fünfte. Drei Viertel aller Kinder, die aus diesen Ehen hervorgingen, wurden christlich erzogen beziehungsweise entschieden sich später gegen die jüdische Religion.
Jahr | Jüdische Bevölkerung | Anteil an der Gesamtbevölkerung (%) | Jahr | Juden im Reich ohne deutsche Staatsbürgerschaft | Juden im Reich ohne deutsche Staatsbürgerschaft (%) |
1885 | 563.172 | 1,2 | 1890 | 22.000 | 3,9 |
1910 | 615.021 | 0,95 | 78.746 | 12,8 | |
1925 | 564.379 | 0,9 | 107.747 | 19,1 | |
1933 | 502.799 | 0,76 | 98.747 | 19,0 |
Berufe und Bildung
Frühere Berufsbeschränkungen im Handwerk und das Verbot jüdischen Landeigentums hatten dazu geführt, dass Jüdinnen und Juden vor allem im Handel und in freien Berufen als Ärzte oder Anwälte arbeiteten. Ungefähr 70 Prozent aller jüdischen Berufstätigen waren hier beschäftigt.
Handel und Industrie wurden durch viele kleine jüdische Läden und Firmen geprägt. Der Anteil jüdischer Akademiker im Bildungsbürgertum war überdurchschnittlich hoch und bildete die Basis für etliche wissenschaftliche und kulturelle Leistungen. 16 Prozent der deutschen Juristen und 11 Prozent der Ärzte waren Juden.
Trotz der rechtlichen Gleichstellung in der Weimarer Republik gab es weiter berufliche Diskriminierungen für Jüdinnen und Juden, die sie an einer erfolgreichen Beamten- oder Militärlaufbahn hinderte. Sie entschieden sich daher oft für die Selbstständigkeit oder für freie Berufe, die ihnen zudem die Befolgung religiöser Gebote erleichterten. Dazu gehörte zum Beispiel die Einhaltung des arbeitsfreien Sabbat. 1933 war ungefähr jeder zweite jüdische Deutsche selbstständig, aber nur jeder sechste nichtjüdische Deutsche.
Jüdische Deutsche verdienten so vor allem in mittelständischen und akademischen Berufen ein oft bescheidenes Einkommen. In Berlin und im Ruhrgebiet hatte sich zudem ein jüdisches Proletariat gebildet. Eine kleine jüdische Oberschicht bestand aus Bankiers und Unternehmern.
Aufgrund ihrer besonderen Berufsstruktur trafen die wirtschaftlichen Verwerfungen der Inflation und der Weltwirtschaftskrise die jüdische Bevölkerung besonders hart. Während der Hyperinflation 1923 verloren Kleinhändler ihre Ersparnisse. Ärzte büßten ihre Honorare ein, da diese trotz der Geldentwertung immer noch vierteljährlich abgerechnet wurden. Für viele jüdische Familien wurde es so finanziell immer schwieriger, den Kindern ein Studium an der Universität zu ermöglichen. Während die Gesamtzahl der Immatrikulationen beispielsweise in Preußen zwischen 1911 und 1925 leicht anstieg, sank die Zahl der jüdischen Studierenden von 2212 auf 1675.
Mit der Weltwirtschaftskrise brach seit 1929 der Konsum und insbesondere die Nachfrage nach Kleidung ein, womit Bereiche betroffen waren, in denen die jüdische Beschäftigung besonders hoch war. Viele jüdische Arbeiter und Angestellte sowie jüdische Selbständige waren daher eher arbeitslos bzw. gingen eher konkurs als nichtjüdische Deutsche.
1895 | 1907 | 1933 | ||||
Gesamtbevölkerung | Juden | Gesamtbevölkerung | Juden | Gesamtbevölkerung | Juden | |
Landwirtschaft | 37,5 | 1,6 | 35,2 | 1,6 | 28,9 | 1,7 |
Handwerk und Industrie | 37,5 | 22,5 | 40,0 | 26,5 | 40,4 | 23,1 |
Handel und Verkehr | 10,6 | 65,2 | 12,4 | 61,4 | 18,4 | 61,3 |
Freie Berufe | 6,4 | 7,1 | 6,2 | 7,9 | 8,4 | 12,5 |
Häusliche Dienste | 8,0 | 3,6 | 6,2 | 2,6 | 3,9 | 1,4 |
Jüdische Religion und Kultur
Für viele jüdische Deutsche spielte die religiöse Lebensführung keine zentrale Rolle mehr. Jude oder Jüdin zu sein bedeutete, samstags und an Feiertagen die Synagoge zu besuchen. Die überwiegende Mehrheit praktizierte die religiösen Regeln weniger streng und nach individuellem Ermessen. Dies entsprach dem allgemeinen Trend zur Säkularisierung in der modernen Gesellschaft, der sich in der Weimarer Republik fortsetzte.
Jüdische Feiertage und Feste wurden hauptsächlich als Familienfeste begangen. Da diese einen eigenen Lebensrhythmus schufen, prägten sich die besonderen jüdischen Traditionen und Eigenarten von Kindheit an ein. Der gemeinsame Freitagabend wurde so für viele wichtiger als die Beachtung der Sabbatvorschriften. Er galt als Inbegriff für Familie, Feierlichkeit und Frieden. Auch in manchen nichtorthodoxen Familien wurden dabei Gebet, Segen und Psalmen auf hebräisch vorgetragen. Jedoch waren nur noch wenige in der Lage, die Hebräische Bibel ohne Übersetzung zu lesen. Nur eine Minderheit lebte, wie es nach orthodoxen Vorschriften erwartet wurde.
Die jüdische Gemeinde war mehr als nur eine religiöse Einrichtung. Sie übernahm auch pädagogische und soziale Aufgaben. Um die Gemeindewahlen und die Gemeindepolitik gab es innerjüdische Auseinandersetzungen. Die Erfahrungen mit dem Antisemitismus und die jüdische Einwanderung aus Osteuropa brachte viele angepasst und säkular lebende Juden dazu, sich wieder stärker mit dem Judentum auseinanderzusetzen.
Das Ostjudentums galt als inspirierende Quelle religiöser und jüdischer Erneuerung. Dazu kamen die positiven Erfahrungen, einer Gemeinschaft anzugehören. Die Rückbesinnung auf das Jüdische erhielt so in der Weimarer Republik eine eigene Dynamik.
Jüdische Organisationen und Vereine
Der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ wurde 1893 gegründet. Seine Ziele waren die Förderung jüdischer Kultur und die Abwehr des Antisemitismus. 1926 gehörten dem Centralverein ca. 60.000 Mitglieder an. Sie verstanden sich als Deutsche jüdischen Glaubens und setzten auf Akkulturation. Die Angleichung der eigenen an andere Kulturen sollte demnach möglich sein, ohne die jüdische Identität aufzugeben.
Dem Centralverein stand die 1897 gegründete Zionistische Vereinigung für Deutschland gegenüber. Ihr gehörten in den 1920er Jahren ca. 33.000 Mitglieder, die sich als jüdisch-national verstanden. Zionisten sahen sich als ein Volk mit einer gemeinsamen jüdischen Kultur und in der Zukunft auch mit einem jüdischen Staat. Wer Mitglied der Zionistischen Vereinigung war, sollte die Auswanderung nach Palästina in die persönliche Lebensplanung einschließen. So hatte es die Delegierten 1912 in Posen beschlossen.
In den 1920er Jahren nahmen die innerjüdischen Auseinandersetzungen um den Zionismus zu. Sie zeigten sich in der Zusammensetzung und Ausrichtung der jüdischen Gemeinden. Die große Mehrheit der deutschen Juden lehnte den Zionismus ab, weil sie ihre Identität als jüdische deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gefährdet sahen.
Abgesehen von den beiden bedeutendsten jüdischen Organisationen im Deutschen Reich, gab es auch noch andere jüdische Strömungen, wie zum Beispiel die Orthodoxie oder das Reformjudentum. Zu den jüdischen Vereinen, Gruppen und Institutionen zählten unter anderem der Jüdische Frauenbund und jüdische Volkshochschulen. Eine wichtige Rolle spielte der patriotisch gesinnte Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, der in den 1920er Jahren rund 40.000 Mitglieder zählte.
Antisemitismus
Antisemitische, rassistische Diffamierungen waren in den Anfangsjahren und zum Ende der Weimarer Republik stärker als in den mittleren Jahren. Wie Zeitpunkt und Häufigkeiten antisemitischer Zwischenfälle an Schulen zeigen, entsprach das Verhalten von Kindern und Jugendlichen dabei der allgemeinen Entwicklung und den Schwankungen des Antisemitismus in der Weimarer Gesellschaft.
Jüdischsein und die jüdische Geschichte bieten keine Erklärungen für Antisemitismus. Es macht keinen Sinn, Verbindungen herzustellen zwischen dem, was und wer die Juden waren, und ihrer gesellschaftlichen Ächtung. Wer nach Gründen für die Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Minderheit sucht, muss sich in erster Linie mit denjenigen befassen, die überhaupt erst eine sogenannte „jüdische Frage“ aufwarfen. Zentral für das Verständnis des völkischen und nationalsozialistischen Rassismus sind demzufolge die Vorstellung einer deutschen Volksgemeinschaft und die menschenfeindlichen Einstellungen derjenigen, die sich in dieser Volksgemeinschaft wiederzufinden glaubten.
Wissenschaftliche Darstellungen und digitale Sammlungen
Avraham Barkai, Paul Mendes-Flohr, Steven M. Lowenstein: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Band 4: 1918–1945, München 2000.
Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000.
Michael Brenner, Derek J. Penslar: In Search of Jewish Community. Jewish Identities in Germany and Austria, 1918–1933, Bloomington 1998.
Sharon Gillerman: Deutsche Juden in der Weimarer Republik. In: Nadine Rossol, Benjamin Zimmermann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 647–676.
Kirsten Heinsohn: Juden in der Weimarer Republik. In: Arno Herzig, Cay Rademacher (Hg.): Die Geschichte der Juden in Deutschland, Bonn 2008, S. 170–179.
Jüdische Rundschau vom 16.9.1930, S. 1.
Anthony D. Kauders: Weimar Jewry. In: Anthony McElligot (Hg.): Weimar Germany, Oxford 2011, S. 234–259.
Trude Maurer: Vom Alltag zum Ausnahmezustand. Juden in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1918–1945. In: Marion A. Kaplan (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003, S. 348–472.
Monika Richarz (Hg.): Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780–1945, Stuttgart 1989.
Alphons Silbermann: Deutsche Juden oder jüdische Deutsche? Zur Identität der Juden in der Weimarer Republik. In: Walter Grab, Julius H. Schoeps (Hg.): Juden in der Weimarer Republik. Skizzen und Porträts, Darmstadt 1998, S. 347–355.