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Pazifistin

Eva Schiffmann wurde zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges geboren. Kurz nach Kriegsende kam sie in die Schule.

Als sie das Tagebuch zu schreiben begann, war seit sieben Jahren Frieden.

  • Was wusste Eva über den Ersten Weltkrieg?
  • Warum wollte sie Pazifistin sein?

Eva und ihre Mitschüler:innen waren zwischen 1914 und 1918 noch Kinder gewesen. Obwohl sie den Krieg nicht erlebt hatten, war die Kriegserinnerung im Alltag präsent. Auch in der Schule wurde darüber gesprochen.

Besonders zwei Bücher haben Evas Ablehnung von Krieg und Gewalt bestärkt. Ihre Gedanken über den Erhalt des Friedens hat sie 1928/29 genau in der Mitte der Zwischenkriegszeit formuliert: Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Im Jahrhundertwinter 1929 erwähnte Eva sogenannte Kohleferien. An einem Sonntag schrieb sie noch spät in ihr Tagebuch. Im Schlafzimmer war es offenbar bitterkalt. Am nächsten Tag und wahrscheinlich die ganze Woche sollte die Schule ausfallen.

Der damalige Februar war mit einer Durchschnittstemperatur von minus 9,6 Grad Celsius einer der beiden kältesten Wintermonate des letzten Jahrhunderts. Nahezu alle Flüsse waren zugefroren. Klassenzimmer wurden nicht mehr beheizt. Auch die Aufbauschule wurde außerplanmäßig geschlossen.

Kohleferien mitten im Frieden zu haben, erschien Eva ungewöhnlich: „Wir haben Kohlenferien. Im 20. Jahrh. mitten im Frieden! das kommt durch die große Kälte, die plötzlich kam. Es ist eine denkwürdige Kälte, seit 100 J. nicht dagewesen.“ (d. 24.2.29)

Der Begriff 'Kohleferien' stammte aus dem Ersten Weltkrieg. Im Krieg war durch die Schließung von Schulen und Universitäten, Kohle und Heizmaterial gespart worden. Seit 1916 waren auch an Evas Schule, dem vormaligen Lehrerseminar, nur wenige Klassenzimmer beheizt. Monatelang wurde vom frühen Morgen bis späten Abend unterrichtet.

Seit den überstandenen Nachkriegsjahren lief der Schulbetrieb wieder normal. Für Eva war Schulausfall daher eine für Friedenszeiten ungewöhnliche Erfahrung.

Eva war sich ihrer pazifistischen Haltung zunächst unsicher. In ihrem ersten Eintrag deutete sie die politischen Probleme des Pazifismus der 1920er Jahre an. Die deutsche Friedensbewegung war zwar international vernetzt, um ihr Ziel einer Völkerverständigung zu erreichen. Sie scheiterte jedoch an der Fähigkeit, Bündnisse zu schließen und die Bevölkerungen für einen weltweiten Frieden zu mobilisieren.

Der Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky kritisierte den deutschen Pazifismus als illusionär und schwärmerisch. Dessen begrenzte politische Durchschlagskraft in der militaristisch geprägen Weimarer Gesellschaft klang auch bei Eva an, wenn sie die Idee vom "Weltfrieden" eine Phantasie nannte: „Geſtern hatten wir eine ſchöne Geſchichtsſtunde bei Liffert. Er ſprach über den Weltfrieden. Ich bin durchaus Pazifist. Von einem Weltfrieden habe ich ſchon immer phantasiert. Ich habe im 5. Schuljahr, einmal Weltfrieden gewünſcht, als wir alle etwas wünſchen ſollten. Das hat mir ſpäter jemand wieder erzählt. Nun habe ich immer gedacht, ſo müßte eigentlich jeder ſo denken. Liffert ſagte, daß das wirklich viele Menſchen wollen. Er brachte aber gute, belaſtende Momente. Ich muß mir nun die Sache noch einmal überlegen.“ (5.9.28.)

Evas Geschichtslehrer Kurt Liffert war selbst Kriegsveteran. Nach dem Abitur und einem Semester an der Universität Jena hatte er seit 1916 als Soldat an der Front gekämpft. Ob er in der Geschichtsstunde für oder gegen den Weltfrieden argumentierte, wurde von Eva nicht ausgeführt.


In damaligen Schulbüchern erschien die Geschichte dagegen klar. Der Weltkrieg wurde als ein Verteidigungskampf gegen Frankreich, England und Russland gedeutet. Leid und Kriegsgrauen wurden zwar thematisiert, die Verantwortung dafür aber allein dem Feind zugeschrieben, der aus Neid und Rachsucht das Deutsche Reich angegriffen hätte. Aus der Perspektive, dass das eigene Land als Kriegsschauplatz verhindert wurde, erhielten die Opfer der deutschen Soldaten einen Sinn. Nicht der Krieg, sondern der Versailler Friedensvertrag 1919 wurde als Unglück Deutschlands dargestellt.

Die Kriegsverherrlichung in der Schule überzeugte Eva nicht. Stattdessen orientierte sie sich an Antikriegsbüchern, die sie in ihrer Freizeit las. „Durch Ernst Glaeser bin ich in meinem Pazifismus verstärkt worden."

Ernst Gläsers pazifistischer Roman „Jahrgang 1902“ erschien 1928. Er beschrieb die prägenden Jugenderfahrungen einer Generation im Ersten Weltkrieg (1914–1918). Diese Jugendlichen waren zwar zu jung für den Kriegseinsatz gewesen, hatten aber die Hungerjahre und Meldung der Gefallenen in den Familien erlebt. Gläser positionierte sich in seinem Buch auch gegen Antisemitismus und völkische Männerklischees. Er nahm darin Partei für einen jüdischen Schüler, der von seinem rassistischen Sportlehrer verhöhnt und gedemütigt wird.

Als ihre Klasse im Fach Latein das Sprichwort "Si vis pacem para bellum" (Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor.) übersetzen sollte, entspann sich nach Unterrichtsschluss eine kontroverse Debatte. Eva mischte sich ein und verurteilte die Sinnlosigkeit des Krieges. Einige Mitschüler begriffen den Krieg dagegen als ein Abenteuer, aus dem sie unversehrt zurückkehren würden.

Eva erinnerte dagegen an die tödliche Wirklichkeit: "Neulich übersetzten wir in der Lateinstd. bei Frl. Vogel: Si vis pacem, bellum pura. Böhm (ein 20jähr. Sozialist) sagte, das stimmt nicht. Sie teilte seine Meinung nicht. Nach der Stunde sprach er mit einigen davon. Da habe ich mit Staunen bemerkt, wie uninteressiert die 17-18j. Jungen an diesen Dingen sind. Der Schwarze kommt zu der Gruppe, wendet sich unwillig zu mir um: Ach, das interessiert mich doch nicht, ob Böhm Pazifist ist oder nicht. Ich sagte ernst: ‚Doch, aber mich.‘ ‚Ja?‘ sagt er etwas verlegen. Einige andere kommen dazu. ich sage mit einigen Worten und Beispielen, wie unsinnig der Krieg ist. Dieter (Primus) sagt: ‚Na ja, ich bin eigentlich auch nicht dafür, aber ich würde doch mitgehen. Bedenk‘ doch mal, wie weit die Soldaten rumgekommen sind. Das hätten die sonst nie gesehen.‘ Damit hat er schon recht, aber es ist doch Wahnsinn, sich aus Abenteuerlust zu morden. Viele sagten, sie seien gegen den Krieg, würden aber mitgehen.“ (Gotha, d. 3.2.29.)

Die Verdrängung der Kriegsrealität durch ihre Mitschüler, die Eva fassungslos machte, sollte Folgen haben. Fünf von 19 Schülern in Evas Klasse fielen als Soldaten im Zweiten Weltkrieg (1939–1945): Fritz, Herbert, Kurt, Rolf und Heinz.

Die Lektüre von Erich Maria Remarques Antikriegsbuch „Im Westen nichts Neues“ inspirierte Eva zu einem Gedicht, das sie am 8. September 1929 in ihr Tagebuch schrieb.

In ihrem Appell zur Versöhnung griff Eva das universelle Motiv des unbekannten Soldaten auf. Sie verurteilte damit die mörderische Gewalt, die unzählige Tote gefordert hatte. Dem Kampf an der Front, der das Schlechte im Menschen hervorbringe, stellte sie Gleichheit und Brüderlichkeit der deutschen und französischen Soldaten gegenüber. In der Konsequenz erschien Eva der Tod fürs Vaterland als sinnlos:

„Mord! Es töten die Menschen sich,
daß sie Brüder, wissen sie nicht.
Bestien! Rasende, wilde Tier,
Deutsche hie, Franzosen hier.
Vorn an der Front, Du da, Soldat,
wen tötest Du, auf wessen Rat?
Du opferst Dich fürs Vaterland,
Fragst nicht, warum es Dich verlangt.
Franzosen, Deutsche, seid alle gezeugt,
Euch all hat eine Mutter gesäugt.
Ihr werdet alle sterben einmal,
was streitet ihr um ein Fluß, ein Tal?
Was machts, daß dem das Ländchen ist,
daß jenem dieser Strom da fließt,
Menschen, bedenkt doch Euer Tun,
Ihr werdet früh gnug im Grabe ruhn.“

Wir haben Kohlenferien. Im 20. Jahrh. mitten im Frieden! das kommt durch die große Kälte, die plötzlich kam. Es ist eine denkwürdige Kälte, seit 100 J. nicht dagewesen. Ich habe Sa einen Brief geschrieben, in dem ich ihm eine Freundin wünschte, weil er doch zwei Freunde hätte. Ich weiß nicht, ob das richtig war. Ich glaube, er liebt nicht mehr so. Das würde mich freuen. Einseitige Liebe erlischt allmälich, habe ich neulich gehört. Erlischt? Ist Liebe eine Flamme? Trotz allem freue ich mich, wenn ein Brief kommt. Es ist schön, wenn man weiß, daß man geliebt wird. Ich freue mich auch, weil ich mit Fritz ein Geheimnis habe. Es ist spät und kalt im Schlafzimmer. (d. 24.2.29.)

Geſtern hatten wir eine ſchöne Geſchichtsſtunde bei Liffert. Er ſprach über den Weltfrieden. ich bin durchaus Pazifist. Von einem Weltfrieden habe ich ſchon immer phantasiert. Ich habe im 5. Schuljahr, einmal Weltfrieden gewünſcht, als wir alle etwas wünſchen ſollten. Das hat mir ſpäter jemand wieder erzählt. Nun habe ich immer gedacht, ſo müßte eigentlich jeder ſo denken. Liffert ſagte, daß das wirklich viele Menſchen wollen. Er brachte aber gute, belaſtende Momente. Ich muß mir nun die Sache noch einmal überlegen. (5.9.28.)


Durch Ernst Glaeser bin ich in meinem Pazifismus verstärkt worden. Neulich übersetzten wir in der Lateinstd. bei Frl. Vogel: Si vis pacem, bellum pura. Böhm (ein 20jähr. Sozialist) sagte, das stimmt nicht. Sie teilte seine Meinung nicht. Nach der Stunde sprach er mit einigen davon. Da habe ich mit Staunen bemerkt, wie uninteressiert die 17-18j. Jungen an diesen Dingen sind. Der Schwarze kommt zu der Gruppe, wendet sich unwillig zu mir um: Ach, das interessiert mich doch nicht, ob Böhm Pazifist ist oder nicht. Ich sagte ernst: „Doch, aber mich.“ „Ja?“ sagt er etwas verlegen. Einige andere kommen dazu. ich sage mit einigen Worten und Beispielen, wie unsinnig der Krieg ist. Dieter (Primus) sagt: „Na ja, ich bin eigentlich auch nicht dafür, aber ich würde doch mitgehen. Bedenk‘ doch mal, wie weit die Soldaten rumgekommen sind. Das hätten die sonst nie gesehen.“ Damit hat er schon recht, aber es ist doch Wahnsinn, sich aus Abenteuerlust zu morden. Viele sagten, sie seien gegen den Krieg, würden aber mitgehen. (Gotha, d. 3.2.29.)

Mord! Es töten die Menschen sich,
daß sie Brüder, wissen sie nicht.
Bestien! Rasende, wilde Tier,
Deutsche hie, Franzosen hier.
Vorn an der Front, Du da, Soldat,
wen tötest Du, auf wessen Rat?
Du opferst Dich fürs Vaterland,
Fragst nicht, warum es Dich verlangt.
Franzosen, Deutsche, seid alle gezeugt,
Euch all hat eine Mutter gesäugt.
Ihr werdet alle sterben einmal,
was streitet ihr um ein Fluß, ein Tal?
Was machts, daß dem das Ländchen ist,
daß jenem dieser Strom da fließt,
Menschen, bedenkt doch Euer Tun,
Ihr werdet früh gnug im Grabe ruhn.
(Gotha, d. 8. September 1929)

Christian Klein: Nachwort. In: Ernst Glaeser: Jahrgang 1902, Göttingen 2013, S. 321–389.

Claudia Siebrecht: Die Präsenz des Ersten Weltkriegs in der Kultur der Weimarer Republik. In: Nadine Rossol, Benjamin Ziemann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 867-868.

Deutscher Wetterdienst: Februar, 01.02.2015, https://www.dwd.de/DE/wetter/thema_des_tages/2015/2/1.html.

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