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JJWBlerin und Zionistin

Beim Lesen vieler Tagebucheinträge über den Jungjüdischen Wanderbund (JJWB) fällt auf, dass Eva die Mitgliedschaft in einen inneren Konflikt brachte.

Einerseits konnte sie sich mit dem zionistischen Ideal eines jüdischen Staates identifizieren. Andererseits empfand sie viele Anforderungen, die mit der Emigration nach Palästina und einem Leben im Kibbuz verbunden waren, als unvereinbar mit ihren persönlichen Lebensplänen und Wünschen für die Zukunft.

  • Warum war Eva der JJWB dennoch wichtig? 
  • Wie erlebte sie das Mitglied-Sein? 

Aus dem Tagebuch ist nicht ersichtlich, wann Eva dem JJWB Gotha beitrat und ob dies auf ihren eigenen Wunsch hin geschah. Vermutlich hat sie den Zugang durch ihre älteren Geschwister Max, Ilse und Dora gefunden, die ebenfalls im Gothaer JJWB aktiv waren. Mit ihren Cousinen Käte, Anna und Toni war Eva in der Jüngeren- und Mittlerengruppe organisiert.

Sie alle stammten aus einer religiösen Familie mit osteuropäischen Wurzeln. Es waren vor allem Jugendliche mit dieser Herkunft, die sich von zionistischen Ideen angezogen fühlten.

Es ist nicht bekannt, wann die JJWB-Gruppe in Gotha gegründet wurde. Der Sozialdemokrat und Arzt Fritz Noack scheint  ein wichtiger Initiator der zionistischen Gruppierung gewesen zu sein. Sie stand im Widerspruch zur politischen und religiösen Ausrichtung der Israelitischen Kultusgemeinde Gothas.

Die innerjüdischen Konflikte hatten auch damit zu tun, dass in der Stadt alteingesessene und aus Osteuropa zugewanderte Juden lebten. Eva deutete das im Tagebuch über ihren Vater an. Er stammte aus Polen und wurde als Vertreter der Ostjuden in den Vorstand der jüdischen Gemeinde gewählt, die sich offensichtlich erst nach „großen Debatten“ zusammenfand.

Zwei Mal in der Woche ging Eva zum Heimabend, der bei ihrer Cousine Toni Schiffmann stattfand. Auch von einem Kostümfest schrieb sie: „Ich war ein Cowboy. Es war sehr schön. Wir haben viel getanzt. Nach 9 gingen wir nach Hause. Anna und Käte und noch ein paar waren einmal rausgegangen. Ich ging dann auch hinaus. Da hatten sie geraucht und ich habe auch gerade noch ein kleines Stück einer Zigarette erwischt.“ (d. 13.3.28.)

In den Gothaer JJWB-Gruppen konnten die Jugendlichen gleichberechtigt und frei über Themen reden, die sie in Anwesenheit der Erwachsenen nicht besprechen konnten. In Schule und Elternhaus war dagegen vieles tabu, was nicht den Moralvorstellungen der damaligen Zeit entsprach.

Ein Thema war der Jugendroman „Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew“ des Reformpädagogen Nikolai Ognjew. Er beschrieb das freie und selbstbestimmte Lernen an einer Daltonplan-Schule. Die Frage, wie und was in der Schule gelernt werden sollte, wühlte zu dieser Zeit nicht nur sowjetische Jugendliche auf. 

In Deutschland wurden mehrere Auflagen des sozialistischen Erziehungsromans gedruckt. Die JJWB-Zeitschrift „Der Junge Jude“ empfahl das Buch. Im Tagebuch heißt es: „Wir [im JJWB] lesen jetzt Kostja Rjabzew und sprechen darüber. Neulich hatten wir eine lebhafte Diskussion ob Freundschaft zwischen Jungen u. Mädchen bestehen kann. Ich glaube, es kann es in wenigen Fällen gehen, aber meistens wird es wenigstens einseitig Liebe. In Kostja steht auch vieles über die sexuelle Frage.“ (5.9.28.)

Auch die Bundestage und anschließenden Fahrten boten Freiräume außerhalb von Schule und Elternhaus. Es gab die Gelegenheit, mit anderen jüdischen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, die nicht aus Gotha stammten.

Im Oktober 1927 berichtete Eva, dass sie zum ersten Mal selbst am Bundestag in Vöhl teilgenommen hatte. Im Anschluss ging sie mit auf Fahrt nach Kassel. Im Tagebuch schrieb sie über diese Woche: „Es war sehr schön […].“ (Gotha, d. 16.10.27.)

Von da an fuhr Eva jedes Jahr zum Bundestag. Jedoch verbot ihr die Mutter im Sommer an einem Zeltlager teilzunehmen, weil es dort keine Geschlechtertrennung gab: „Ich wollte heute zum Jüngerenlager fahren, ich habe mir das Geld gespart, aber Mama hat es nicht erlaubt, weil Jungen und Mädchen dort sind. (Altmodischer Unsinn).“ (Gotha, 15. Juli 1928.) Eva und ihre Schwester Ilse mussten zum Bundestag nachreisen.

Anders wurde Bruder Max behandelt. Er durfte davor auch ins Jüngerenlager nach Scharzfeld. Mit dabei waren: sein Freund Isi aus Eisenach, Evas Cousinen, ihre Freundin Hetti Tauber und wahrscheinlich auch zwei Mitschüler Jo(e) Stecher und Seew Orbach. Seew hieß mit bürgerlichem Namen Wolfgang Orbach. Er gehörte der Bundesleitung des Jungjüdischen Wanderbunds an. 
 

Über ihre Teilnahme am Bundestag 1928 notierte Eva: „Das war knorke. Wir hatten sehr feine Sichoth. Z.B.: Warum bin ich Zionist?“ (Gotha, d. 30.8.28.) Bis dahin hatte Eva vornehmlich über die Unternehmungen im JJWB geschrieben. Mit 16 Jahren gewann dann die Auseinandersetzung mit den kommunistischen und zionistischen Zielen des JJWB  in ihrem Tagebuch Raum. Eva fragte sich, ob sie die Auswanderung nach Palästina mit ihrer eigenen Lebensplanung vereinbaren konnte.

Sie vertrat die Auffassung des JJWB und der Zionistischen Vereinigung, dass für die Juden ein eigener Nationalstaat geschaffen werden müsse. Sie unterschied zwischen Deutschen und Juden: „Ich finde immer, daß die Leute, die sagen: sie sind Deutsche jüdischen Glaubens, noch nie richtig überlegt haben.“ (Gotha, d. 30.08.1928)

Die Idee eines jüdischen Volkes schien ihr so selbstverständlich zu sein, dass sie die Vorstellung vom jüdischen Volk auch in die Schule trug. Eine Äußerung im Geschichtsunterricht, dass die Juden auf der ganzen Welt zerstreut seien, kommentierte sie: „Bald sind wir es nicht mehr. Wir schaffen uns ein Land.“ (Gotha, d. 30.8.1928)

Obwohl Eva die Idee eines jüdischen Staates mittrug, bezweifelte sie, dass sie selbst darin leben wollte: „Es müssen dann ja nicht alle im Lande wohnen [...]“ (Gotha, d. 30.8.28.) Sie ging davon aus, dass der Aufbau eines jüdischen Staates  ihre eigene Lebenszeit übersteigen und sie selbst nichts mehr davon haben würde.

Der zionistische Lebensentwurf zielte auf die Besiedlung Palästinas. Dafür waren vor allem handwerkliche und landwirtschaftliche Fähigkeiten gefragt. Die systematische Vorbereitung auf die Auswanderung hieß Hachscharah. Ihr stellte Eva den eigenen Wunsch entgegen zu studieren: „Wir JJWBler wollen doch eigentl. auf Hachscherah gehen. Ich habe keine Lust dazu, möchte lieber studieren“ (Leipzig, d. 11.10.28.)

Noch zu Beginn des Jahres 1929 unterstrich sie, dass sie keine Landarbeiterin sein wollte. Viel lieber wollte sie für die zionistische Sache spenden und so den Aufbau eines jüdischen Nationalstaates finanziell unterstützen.

Eva teilte auch die Auffassung nicht, dass jüdisches Leben außerhalb des biblischen Landes Israel ein Leben im Exil (hebräisch: Galuth) sei. Sie fühlte sich sowohl in ihr jüdisches als auch nicht jüdisches Umfeld gut eingebunden. Eine befriedigende Lösung ihres Zwiespaltes fand sie im Tagebuch nicht.

Dieses Jahr war ich das erste Mal mit auf dem Bundestag des JJWB, und dann auf Fahrt. Von Sonntag bis Sonntag. D. Bundestag war in Vöhl. Dann waren wir noch in Kassel und Umgegend. Es war sehr schön. Leo Meyerhoff war mit uns Gothaern. Er und Erna benahmen sich wie Verlobte. Ob sie sich heiraten werden, weiß man ja noch nicht so bestimmt. (Gotha, d. 16.10.27.)

Da wir ein freies [Aufsatz-]Thema hatten, habe ich ein anderes genommen. „Am Bundesfeuer“ vom Bundestag. (Gotha, d. 23.10.27.)

Auf dem Ausflug habe ich auch eine Zigarette geraucht. Schon einmal, als wir die en englische Aufführung probten, die wir dann im Schloßhotel aufführten, habe ich hinter d. Bühne eine geraucht und einmal waren Thea Heyer, Lilo Fuchs und ich nach der Schule in den Anlagen und haben geraucht. Lischen George war auch mit, hat aber nicht geraucht. (10.12.1927)

Sonntag 3 Uhr, hatten wir (JJWB) unser Kostümfest. Ich war ein Cowboy. Es war sehr schön. Wir haben viel getanzt. Nach 9 gingen wir nach Hause. Anna und Käte und noch ein paar waren einmal rausgegangen. Ich ging dann auch hinaus. Da hatten sie geraucht und ich habe auch gerade noch ein kleines Stück einer Zigarette erwischt. (d. 13.3.28.)

Ich wollte heute zum Jüngerenlager fahren, ich habe mir das Geld gespart, aber Mama hat es nicht erlaubt, weil Jungen und Mädchen dort sind. (Altmodischer Unsinn). (Gotha, d. 15. Juli 1928.)

Also, ich war zum Bundestag und dann 8 Tage im Mittlerenlager. Das war knorke. Wir hatten sehr feine Sichoth. Z. B. Warum bin ich Zionist? Es stellte sich heraus, daß 3 Kommunisten dabei waren 15 Jahre 1 Mädel und 2 Jungen, das war nun sehr interessant. Ich finde, es ist die Pflicht jedes Juden, Zionist zu sein. d.h. zu helfen, ein eigenes Land zu haben. Natürlich meine ich das nicht wegen Religion, sondern weil wir Überreste eines alten Volkes sind, das wir erhalten müssen. (Gotha, 30.8.28.)

Wir [im JJWB] lesen jetzt Kostja Rjabzew und sprechen darüber. Neulich hatten wir eine lebhafte Diskussion ob Freundschaft zwischen Jungen u. Mädchen bestehen kann. Ich glaube, es kann es in wenigen Fällen gehen, aber meistens wird es wenigstens einseitig Liebe. In Kostja steht auch vieles über die sexuelle Frage. Ich denke jetzt manchmal, ach, wenn jetzt so ein hübscher boy käme, würde ich ein bißchen zum Vergnügen mit ihm gehen. d. h. ich dachte es vor kurzer Zeit und habe das jetzt beinahe wieder überwunden. Es verträgt sich nicht mit meiner Ideologie. Silva ist mir sympathisch. Wir sprachen auch über Lina und Soja. Sie kommen einem zuerst dov und besonders überspannt vor. Doch dann kamen wir darauf, das [unleserlich] ihre Art natürlich ist. Jeder Mensch ist in einem Alter so, daß er sich immer hervortun will oder zurückgesetzt glaubt. Dann denkt er sich auch oft etwas aus. Z. B. wenn er jetzt als Leich daliege, würde er von allen beachtet werden u.s.w. Man denkt nat. nicht daran, dann wirklich Selbstmord zu begehen. Wenn mit jetzt mal das Leben nicht gefällt, denke ich immer: Wenn ich es nicht mehr ertragen kann, gibt es ja den Tod. (5.9.28.)

Daß Rauchen die Gesundheit schädigt, stört mich nicht. Wenn ich mir im Leben nichts leisten soll, was nützt mir da ein langes, langweiliges Leben? (Gotha, d. 4.11.28.)

Ich bin wieder Zionist. Wir sprachen in der Schule von der Verteilung der Rassen auf der Welt. Das ist so sh schrecklich, so schmerzlich, wenn man da g hören muß, daß die Juden auf jedes Land verteilt sind in so und soviel %. Wir müssen ein Land haben, damit man uns achtet. Aber ich bin kein JJWBler. Ich will nicht als Landarbeiterin selbst mit bauen. Ich habe keine Lust dazu, und bin nicht so edel, um es nur für die Idee zu tun. Ich will aber viel Geld verdienen, und viel für den Aufbau Palästinas geben. Aber ich bin ja ein richtiger Kapitalist? (15.2.29.)

Mir sind jetzt alle Jungen gleichgültig. Nur Joe Stecher kann ich gut, sogar sehr gut leiden. Er war nur zum Bundestag da. Zum Herbst geht er rüber nach Erez. Jetzt sind schwere Unruhen in Paläst. Hoffentlich können wir unser Werk fortsetzen. ich werde sicher nach Erez gehen, aber erst, wenn ich etwas älter bin. Andererseits würde ich sehr sehr gern studieren. Am liebsten möchte ich Psychologie stud., u. dann noch Jura, um Jugendrichter werden zu können. Die Menschen sind doch fabelhaft interessant. Ich habe auch im Lager immer psychologische Studien gemacht. Ilse hat vier Wochen beim Bauern gearbeitet. Es hat ihr ganz gut gefallen. Ich mache das vielleicht auch nächstes Jahr. Im Frühjahr geht „Hamischmar“, ein Berliner Zug in den Kibuz. (Dazu gehört auch Jo). Erna geht auch im Herbst rüber, auch Leo Maierh Meierhof. (Gotha, d. 8 September 1929)

Meine Gruppe macht mir jetzt viel Spaß. Ich habe die Kleineren entfernt u. arbeite jetzt mit den 12-15jährigen. (29. Okt. 29)

Jüdisches Liederbuch der zionistischen Ortsgruppe Gotha, Gotha 1920, https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/4105684.

Eva Schiffmann

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